Donnerstag, 16. Februar 2012

Anpfiff zur zweiten Halbzeit


Geläufige Verabschiedungsfloskeln wie "Die Zeit wird wie im Flug vergehen" haben sich im Volksmund nicht nur durchgesetzt weil sie schwerfallende Abschiede erleichtern, sondern weil in ihnen mehr Wahrheit steckt, als man beim Verabschieden selbst zu hoffen vermag. So sitze ich gerade im ukrainischen Dnipropetrovsk und frage mich wo nur die letzten 5 Monate hin sind? Der Alltag hat gierig Tag um Tag, Woche um Woche verschlungen und kaum dass ich mich versehe, ist schon der Zenit überschritten und die Zeit tickt jetzt gegen Ende meines Freiwilligendienstes.

Dass es wirklich schon so weit ist, wurde mir erst durch das Zwischenseminar klar, welches vor etwas mehr als einer Woche in Chisinau, der Hauptstadt Moldawiens, stattfand. Dort haben sich alle nach Osteuropa entsandten Freiwilligen meiner deutschen Organisation IJGD zusammengefunden, um die erste Hälfte Revue passieren zu lassen, sich auszutauschen und neue Impulse und Motivation für die zweite Halbzeit zu finden. Da wir uns alle schon von zwei intensiven Seminarwochen im vorherigen Sommer kannten, war es ein freudiges Wiedersehen bekannter Gesichter, vermisster deutscher Stimmen und wenn man so will auch Leidensgenossen. Denn aus den gegenseitigen Berichterstattungen wurde klar, dass sich zwischen unseren Erlebnissen, Eindrücken und Erfahrungen im Ostblock viele Parallelen ziehen lassen.
Gelebt und „seminarisiert“ haben wir in einem Hostel unweit vom Stadtzentrum Chisinaus. Dort haben wir uns auch selbst versorgt, was nicht immer ganz einfach war bei nur zwei halbfunktionierenden elektrischen Kochplatten, auf denen man für 12 Leute kochen musste. Aber da wir alle mittlerweile fünf Monate Ostsurvivaltraining hinter uns hatten, haben wir es dennoch fertig gestellt uns recht gut und lecker zu ernähren. Inhaltlich haben wir viel über unsere Projekte gesprochen, die eigene Arbeit reflektiert und politische und soziale Probleme in der Osteuroparegion besprochen. Für mich war das Seminar besonders deshalb wertvoll, da es einen Rahmen geboten hat, sich mit dem Verlauf der letzten fünf Monate bewusst auseinandersetzen und vor allem sich mit den anderen Freiwilligen auszutauschen, also mit Leuten die ähnliche Eindrücke und Probleme hatten.
Etwas befremdlich war allerdings die Hin- und Rückreise zum Seminar. Zum Seminar hin bin ich erst mit dem Nachtzug nach Kiew gefahren und bin von dort aus zusammen mit Carla, Luisa und Zoe (einer weiteren Freiwilligen aus Weißrussland) mit dem Reisebus nach Chisinau gefahren. Zurück konnte ich dann eine direkte Reisebusverbindung wieder nach Dnipropetrovsk nehmen. Sowohl die Einreise als auch die Ausreise aus Moldawien ist über Transnistrien, einem umkämpften, international nicht anerkannten De-Facto-Staat erfolgt. Damit hatten wir, größtenteils unbewusst, genau das gemacht, was in allen Reiseführern unter dem Vermerk „bitte vermeiden“ geführt wird. Allerdings hatten wir zum Glück keine Probleme. Wir mussten nur ungelogene 6 Mal unsere Reisepässe abgeben, die kontrolliert wurden. Leider konnte wir aber noch nicht einmal einen Mutprobenbeweis in Form eines Einreisestempels von Transnistrien mitnehmen, weil Moldawien den Stempel von Transnistiren nicht anerkennt und auch beim überqueren der transnistrischen Grenze ging der Reisepass leer aus, weil wir ja offiziell schon in Moldawien waren.

Wie es sich zum Bergfest gehört, hier nun auch noch eine kleine Zwischenauswertung. Das Zwischenseminar hat mich erkennen lassen, wie gefestigt und wohl ich mich in meinem Projekt fühle und wie sehr mir die Schüler, Lehrer und anderen Menschen aus meinem Umfeld hier ans Herz gewachsen sind. Mit dem Zwischenseminar ist auch der Anpfiff zur zweiten Halbzeit laut erklungen, die ich nun aufgewärmt (um in der Sportmetapher zu bleiben) auch noch erfolgreich zu ende führen und genießen möchte.

Wie versprochen kommt zum Schluss noch ein Wetterupdate. Ja, liebe Leserinnen und Leser, liebe Mails-, Nachrichten- und Kommentar-Schreiberinnen und –Schreiber aus Deutschland und anderen Teilen der Welt, ja, mittlerweile ist es hier richtig kalt geworden. Hab ich beim letzten Blogbericht noch das Wetter als „unspektakulär“ abgetan, so hat nun der Februar seinem ukrainischen Namen („der Heftige“ oder „der Scharfe“) alle Ehre gemacht. Ende Januar fiel das Thermometer innerhalb von nur zwei Tagen von 0 auf -23 Grad, zwei Tage dauerhafter Schneefall hinterließen ein weißgekleidetes „Winterwonderland“ und auch der Wind schien einen Zahn zuzulegen. Macht euch aber keine Sorgen. Der Schneefall hat nach den zwei Tagen schnell wieder aufgehört, das „Winterwonderland“ hat sich zu einer schmutzigen schwarz-braunen, nicht mehr ganz so „wonderfullen“ Eisschicht festgetreten. Auch wenn die Ukraine dadurch wieder ihren alten, etwas schmutzigen und kaputten Touch bekommen hat, muss ich mich wenigsten nicht auf Langlaufskiern zur Schule durchschlagen. Und an die frostigen Temperaturen habe ich mich auch schon gewöhnt. Man muss einfach artig das Zwiebel-Prinzip (das übrigens im russischsprachigen Raum passend zum osteuropäischen Winterspeiseplan gemeinhin unter der Bezeichnung „Kohl-Prinzip“ existiert) beim morgendlichen Anziehen berücksichtigen, ausgiebige Spaziergänge an der frischen Luft vermeiden und wenn nötig auch mal in Gebäuden sich ein bisschen wärmer anziehen und schon lässt sich die Kälte ganz gut ertragen. Mitleid ist also nicht nötig!

Mit warmen Grüßen aus dem kalten Osten

Eurer Lukas