Montag, 7. Mai 2012

Zeitungsartikel 2

Auf kaum ein anderes Land richten  zurzeit die deutschen Medien ihre Aufmerksamkeit so intensiv wie auf die Ukraine. Die Fußball Europameisterschaft 2012, die die Ukraine zusammen mit Polen ausrichten wird, beginnt in fast fünf Wochen, die Inhaftierung und der Umgang mit der ehemaligen Premierministerin Julija Timoschenko wird als äußerst fragwürdig betrachtet und dann ereignete sich auch noch am letzten Freitag eine Serie von Bombenexplosionen in Dnipropetrovsk, im Süd-Osten der Ukraine. Genau dort in Dnipropetrovsk absolviere ich zurzeit einen entwicklungspolitischen Freiwilligendienst an einer Schule, an der ich Deutsch und Englisch unterrichte und Schüler mit besonderen Bedürfnissen betreue.

Aus den Nachrichten scheinen Ereignisse immer so fern. Berichte, Beschreibungen, Bilder – wir nehmen sie wahr, doch was sie zeigen scheint uns selten unmittelbar zu betreffen und oft sehr weit weg. Doch auf einmal bin ich mitten in den Ereignissen drin. Ich bin in der Ukraine, die aus deutscher Sicht so weit entfernt scheint, und erfahre nicht nur aus den Medien von den Geschehnissen, sondern bin ganz nah dran.

Es war eine sehr bestürzende Erfahrung für mich, Bombenexplosionen mit vielen verletzten Menschen ausgerechnet in der Stadt, in der ich meinen Freiwilligendienst absolviere, zu erleben. Ich hätte nie mit so etwas gerechnet. Als ich erfuhr, dass im Stadtzentrum Bomben gezündet worden waren, war ich gerade in der Schule. Die Nachricht von den Explosionen verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch die ganze Schule. Die Schüler reagierten allesamt unterschiedlich und wussten nicht so richtig wie sie mit dieser nie dagewesenen Situation umgehen sollten. Einige schienen geradezu panisch, für manche war es aber auch einfach nur aufregend. Das Telefonnetz brach kurz darauf zusammen durch die Flut der gleichzeitig getätigten Anrufe. Im Internet wurde die Anzahl der Explosionen immer weiter nach oben korrigiert. Letztendlich gab es vier Explosionen, doch zeitweise hieß es, es seien mehr als zehn gewesen. Es war ein bizarres Gefühl in der Schule zu sitzen, voller Ungewissheit darüber was wirklich passiert war.

Jetzt, etwa eine Woche nach der Bombenserie, scheint bemerkenswert schnell wieder vollkommene Normalität in Dnipropetrovsk eingekehrt zu sein. In Deutschland allerdings wird der Fall Timoschenko, möglicherweise noch angeheizt durch die Bombenexplosionen, weiter heiß diskutiert. Die Aufrufe zum Boykott der EM von Seiten der deutschen Politik und anderer europäischer Politikgrößen werden immer vehementer. Hier in der Ukraine selber wird über Timoschenko kaum bis überhaupt nicht gesprochen. Die Politikverdrossenheit im Land ist gewaltig. Mir scheint es so, als würden sich die Menschen machtlos gegenüber der Korruption und Willkür im Staatsapparat fühlen. Eine der ersten Reaktionen auf die Bombenserie, die ich mitbekommen habe, kam von einem Lehrer: „Diese Anschläge werden dem Staat als Vorwand dienen, noch mehr Kontrolle über die Gesellschaft auszuüben.“

Es ist wirklich sehr schade mitzuerleben, dass einige vermeintliche Repräsentanten ein schlechtes Licht auf ein ganzes Land werfen. Mir tut dies besonders leid, weil ich persönlich erleben darf, wie gastfreundlich, herzlich und außerordentlich die Menschen in diesem Land sind. Dieses Land hat so viele beeindruckende und tolle Facetten, die derzeit leider sehr stark von den negativen Ereignissen überschattet werden.