Mittwoch, 19. Oktober 2011

Im Smalltalk: Wetter, Essen und was noch so wichtig ist

Erstaunlich häufig wurde ich bis jetzt schon gefragt, wie das Wetter hier sei. Irgendwie kam es mir so vor, als würde in der Frage immer eine leise Mitleidsbekundung mitschwingen, da die meisten wahrscheinlich vermuteten, ich wäre hier in die Ausläufer der sibirischen Tundra gereist und müsste mich jeden Morgen mit Eishacke und Schneeschuhen zur Schule durchschlagen.
Bis jetzt ist dies zum Glück noch nicht so. Die ersten Wochen des Septembers waren hier noch sehr angenehm warm, ich hatte sogar Gelegenheit eine kurze Hose zu tragen. Mittlerweile ist es schon etwas kälter geworden, wobei es auch von Tag zu Tag sehr wechselhaft ist. An manchen Tagen klettert das Thermometer unter die 5°-Grenze und ich trage zumindest morgens schon Handschuhe und Mütze. Einen Tag später kann es aber schon gleich 10° wärmer sein.
Wie sich das Wetter gen Winter hin entwickeln wird und ob ich mich dann schließlich doch mit Schneeschuhen und Eishacke ausstatten muss, weiß ich noch nicht. Ich halte euch aber auf dem Laufenden.

Nun zum für mich wichtigsten Thema überhaupt: dem Essen. Vor meiner Abreise war ich sehr skeptisch, was da auf mich zukommen würde. Vor allem als Vegetarier wurde mir von vielen prophezeit, dass es für mich besonders schwer werden würde. So rieten mir ehemalige Freiwillige, die ebenfalls in der Ukraine waren, ich solle einfach eine Fleisch-Allergie vortäuschen um Miss- und Unverständnis vorzubeugen. 


Das Einzige was nun tatsächlich Gefahr läuft schwer ( bzw. noch schwerer) zu werden, bin ich. Julia, meine Gastmutter kocht jeden Tag gleich mehrmals. Mindestens einmal in der Woche wird frisches Brot und Kuchen selber gebacken. In der Regel werden gleich große Portionen von allem gekocht und mehrere Tag davon gezehrt und jeden Tag kommt etwas Neues dazu. Sei es Suppe, Gemüseragouts, Kompotts, gefüllte Teigtaschen, Salate, Pfannekuchen, Saucen, verschiedene Aufläufe und weitere Gerichte, für die ich gar keinen Sammelbegriff finden kann, immer wird irgendetwas gekocht. Nach dem Essen trinkt man hier in der Regel noch einen Tee, da während des Essens eigentlich nicht getrunken wird, und verschmaust noch ein paar Kekse, selbstgebackenen Kuchen oder auch noch ein Butterbrot.

Was mir hier sehr auffällt, ist der Umgang mit Nahrungsmitteln und die Art zu essen. Besonders im Vergleich mit jener Erfahrung, die ich während meines Auslandsaufenthaltes in der 11. Klasse in Amerika gesammelt habe, macht sich hier eine komplett andere Beziehung und Einstellung gegenüber Nahrungsmitteln bemerkbar. In Amerika schien Essen seinen Ursprung in schon verzehrfertiger Form im Supermarkt zu haben. Wir haben quasi nur Pakete und Tüten gekauft, die in der Mikrowelle zu so etwas wie Essen wurden. Und auch in Deutschland scheint uns der Blick dafür zu verschwimmen, wo Essen herkommt, was das aus der Dose eigentlich einmal war. In der Gemüseabteilung wird uns in der Regel auch nur gentechnisch schön geformtes Obst und Gemüse präsentiert und wenn irgendetwas nicht mehr ganz frisch und lecker ist, wird es sofort weggeschmissen.
In der Ukraine ist das anders. Das meiste Obst und Gemüse kommt von den Sommerhäusern von Bekannten oder der Familie, das dort selbst angebaut und geerntet wurde. Auch Lebensmittel wie Milch und Nüsse bekommen wir auf diesen Weg gleich in großen Mengen. Im Sommer und Herbst wird hier viel eingekocht für den Winter. Was mich besonders beeindruckt, dass hier so gut wie nichts weggeschmissen wird. Obst und Gemüse, das nicht mehr ganz so schön aussieht, wird von den nicht mehr guten Stellen befreit und dann einfach zu Saucen oder Kompotts verarbeitet. Für sauer gewordene Milch gibt es hier extra Rezepte, aus denen super leckere Kuchen und andere Teiggerichte werden.
Dieser Umgang mit Lebensmitteln hat mich auf jeden Fall unseren Umgang in Deutschland überdenken lassen. Was mir in Deutschland immer völlig normal erschien, lässt mich hier stutzig werden und ich erkenne erst in was für einer Wegwerfgesellschaft wir leben. So bin ich auch schließlich beim Recherchieren auf den erschreckenden Fakt gestoßen, dass wir so viele Nahrungsmittel wegschmeißen, dass damit zweimal alle Hungernden der Welt ernährt werden könnten. Traurig!

Ein weiteres interessantes Thema ist Politik. Anscheinend ist es aber nur für mich interessant, denn in der Ukraine herrscht gelebte Politikverdrossenheit. Ich kenne hier keinen, der Zeitungen empfängt oder Nachrichten schaut. Bis jetzt bin ich noch nicht einmal so sicher, dass es hier so etwas wie Tageszeitungen und Abendnachrichten überhaupt gibt. Als ich hier das in der letzten Woche groß in den Deutschen Nachrichten gebrachte Thema von Timoschenkos Verurteilung diskutieren wollte, bekam ich nur die sehr gleichgültige Reaktion „Was? Die ist jetzt im Gefängnis?“. Julia meinte, dass die Politikverdrossenheit der breiten Bevölkerung daher rühren würde, dass der Staat einfach zu sehr durch Korruption und Vetternwirschaft geprägt ist und so die demokratische Macht des Einzelnen eigentlich keine Rolle spielt.
Es ist schon merkwürdig, dass ich hier in der Ukraine von den politischen Ereignissen des Landes weniger mitbekomme, als wenn ich in Deutschland wäre. 

Mein Projekt in der Stadt, deren Name nicht genannt werden kann

Schon vor meiner Abreise herrschte rege Verwirrung über den Namen der Stadt, in der mein Projekt ist. Auch mir fällt es, obwohl ich ihn jetzt schon mehrmals verwenden musste, sehr schwer die verschiedenen Transkriptionen nicht durcheinander zu bringen und muss vor jedem Schreiben erst einmal kurz inne halten. Also um das Ganze hier mal zu entschlüsseln: Die Stadt heißt „Dnjepropetrovsk“ (russische Transkription von Днепропетровск) oder „Dnipropetrowsk“ (die ukrainische Transkription von Дніпропетровськ) und wird „Dne-pa-pe-trovsk“ ausgesprochen, wobei es wahrscheinlich noch weitere Transkriptionsvarianten gib.
In Deutschland habe ich noch keinen getroffen, der es geschafft hat sich diesen Namen zu merken. Auch meine Eltern haben immer noch Schwierigkeiten mit der phonetischen Ausformung dieser ach so fremd klingenden Stadt, obwohl sie ihn jetzt schon über 100 Mal gehört haben. Für die meisten scheint der Name einfach nur wie ein Wutausbruch auf der Computertastatur. Aber da ich gezwungener Weise den Name von Ihr-wisst-schon-wem noch öfters in diesem Blog schreiben muss, entschuldige ich mich an dieser Stelle schon einmal dafür, dass er wohlmöglich jedes mal in einer anderer Schreibweise auftauchen wird und hoffe, dass es nicht allzu viel Verwirrung stiften wird.


Ich befinde mich jetzt also in... naja Ihr-wisst-schon-wo und arbeite in der hiesigen Waldorfschule. Die Waldorfschule von Dnipropetrowsk ist eine von insgesamt vier Waldorfschulen in der Ukraine.
 Der Unterricht hier ist sehr ähnlich aufgebaut, wie ich es auch schon aus meiner eigenen Waldorfschulzeit aus Dortmund kenne. Morgens findet der sogenannte Epochenunterricht statt, in dem über einen Zeitraum von ca. 4 Wochen jeden morgen eine Doppelstunde einem bestimmten Fach gewidmet wird. Auch die für die Waldorfschule typischen praktisch orientierten Fächer, wie Gartenbau, Modellieren, Schreinern oder Steinhauen, sind hier in den Stundenplan integriert. In Dnipropetrovsk wird zu 95% nur Russisch gesprochen. So findet auch der Unterricht auf Russisch statt. Ukrainisch wird nur neben Englisch und Russisch als Fremdsprache unterrichtet. 
Wie an allen Schulen in der Ukraine, wird hier von der 1. bis zur 11. Klasse unterrichtet. 

Obwohl die Schule eigentlich in staatlicher Trägerschaft ist und Schulgeld nur in geringer Höhe für die Finanzierung der zusätzlichen Fächer gezahlt werden muss, kommt es mir doch so vor, als würden doch vorwiegend Kinder aus sozial eher höher gestellten Familien die Schule besuchen. Wie ich von anderen gehört habe, hat die Schule einen sehr guten Ruf und gilt auch als schwieriger im Vergleich zu den staatlichen Schulen.
Auch wenn ich sicher bin, dass diese Schule eher eine positive Ausnahme zu den staatlichen Schulen in der Ukraine ist, merkt man auch hier, dass ich mich in einem Entwicklungsland befinde. So etwas wie eine Sporthalle fehlt leider gänzlich, wodurch der Sportunterricht, nach Möglichkeit draußen stattfindet und auch die Ausrüstung der Klassenräume scheint schon sehr alt zu sein. Darüber hinaus werden oft Lehrer eingestellt, die nicht einmal die Ausbildung zu einem Lehrer haben, da einfach qualifiziertes Lehrpersonal fehlt und auch geistig behinderte Schüler und Schüler mit starken Lernschwächen sind hier an der Schule vertreten, wenn auch in sehr geringer Zahl, weil es hier in der Ukraine einfach nur sehr wenige Einrichtungen gibt, die für die spezielle Förderungen solcher Schüler spezialisiert sind.
Meine Arbeit an der Schule ist sehr vielseitig. Während der großen Pause nach dem Epochenunterricht und beim Wechseln der Klassenräume helfe ich Xenia, einem Mädchen aus der 9. Klasse, das eine Gehbehinderung hat und ohne Unterstützung nicht laufen kann. Außerdem betreue ich noch zwei Stunden pro Woche einen kleinen Jungen aus der 2. Klasse mit Down-Syndrom. In der Regel während des Fremdsprachenunterrichts, der für ihn zu schwierig ist, spiele ich mit ihm draußen Fußball oder mache andere Bewegungsspiele. Den Hauptteil meiner Arbeit an der Schule, nimmt das Unterrichten ein. In der 6., 7. und auch in der 9. Klasse unterrichte ich Kleingruppen von Schülern in Englisch, für die der normale Englischunterricht zu langweilig ist. Während die anderen 11.-Klässler Englischunterricht haben, mache ich Einzelunterricht in Deutsch mit einem Jungen aus der Klasse, der große Lernschwierigkeiten hat und deshalb entschieden hat, sich lieber nur auf eine Sprache zu konzentrieren. Außerdem bereite ich auch noch eine kleine Gruppe von 10.- und 11.-Klässlern mit extra Sprachunterricht auf einen zweimonatigen Aufenthalt in Deutschland vor und gebe Deutschunterricht einer kleinen Lehrergruppe. Darüber hinaus bin ich auch noch im Englischunterricht der 10. Klasse anwesend, übernehme kleine Teile des Unterrichts und betreue auch hier während der Gruppenarbeiten die starken Schüler und leite sie an.
Das Unterrichten macht mir wirklich sehr große Freude. Julia ist immer ganz beeindruckt wie akribisch ich meine Stunden vorbereite und auch die Reaktionen der Schüler und der deutlich werdende Lernfortschritt, geben weiter Ansporn, für die Arbeit im Projekt. Es ist auf jeden Fall sehr interessant den Schulstress mal aus der Lehrerperspektive zu erleben.

Mir scheint, dass vor allem die Tatsache Julia als meine Gastmutter zu haben, mir so viele Möglichkeiten in der Schule eröffnet, mich zu entfalten, da sie als erfahrende Lehrerin an der Schule eine sehr gute Stellung hat. Von meiner Vorgängerin, die vor zwei Jahren hier an der Schule als Freiwillige war, weiß ich, dass die vielen Möglichkeiten mich in meinem Projekt einzubringen nicht selbstverständlich sind und ich bin sehr dankbar dafür.

Obwohl mir Veränderungen eigentlich sehr unlieb sind, gewöhne ich mich doch immer äußerst schnell an eine neue Umgebung und fühle mich gleich vertraut. So ist es auch diesmal. Schon nach ein paar Wochen ist es, als wäre ich hier schon immer gewesen.



Hier nun noch ein paar Fotos von der Schule:












Kennenlernen

Auf geht es mit dem Nachtzug nach Dnipropetrowsk, das gerade vertraut werdende Kiew zurücklassend.
Ich muss zugeben, dass ich schon etwas aufgeregt bin. Nicht nur, dass ich zum ersten Mal mit einem Nachtzug fahre (und das dann auch noch in einem fremden Land), sondern weil am Ende der Fahrt mein Leben für das nächste Jahr auf mich wartet, mein Projekt, meine Gastfamilie, mein neues Zuhause.

Ich stelle fest, dass der Nachtzug eigentlich ein ganz komfortables Reisemittel ist. Ich schlafe in einem Abteil mit drei weiteren Passagieren und bin etwas überrascht, als sich alle drei komplett mit Schlafanzug und Abendhygiene für die Nacht fertig machen. Ich hatte mir das mit dem Nachtzug eher so vorgestellt, dass man einfach anstatt einem Sitz eine Art Liege hat und dort etwas dösen kann. Es gibt aber richtiges Bettzeug, Kopfkissen und sogar dünne Matratzen und so richte ich auch mein Schlaflager her und schlafe nicht nur im Zug sondern übernachte hier.
Zum Glück fährt der Zug Dnipropetrowsk als Endstation an. Die Reise dauert ca. 7 Stunden. Auch wenn ich die meiste Zeit davon schlafen konnte, fühle ich mich doch ganz schön fertig, als ich schließlich aus dem Zug aussteige.

Mein Herz fängt etwas an zu rasen. Gleich werde ich Julia treffen, meine Gastmutter. Wir haben schon mehrere E-Mails geschrieben, aber welcher Mensch hinter den Worten steckt, weiß ich natürlich noch nicht.
Ich und mein Gepäck machen uns den Bahnsteig entlang, auf die Suche nach Julia, die hier auf mich warten will.

Ich erblicke eine Frau, die ich schon von Fotos aus dem Internet kenne und auch sie scheint mich zu erkennen und geht auf mich zu. Wir begrüßen uns etwas unsicher. Man kann merken, dass die Situation für uns beide erst einmal merkwürdig ist. So viel hängt für uns beide daran, dass wir uns verstehen, da wir fast ein Jahr nicht nur zusammen wohnen werden, sondern auch noch zur gleichen Arbeit gehen werden. Julia ist Englischlehrerin an der Schule, wo auch ich arbeiten werde. Deshalb spricht sie zum Glück auch Englisch. Obwohl ich Russisch in der Schule über 10 Jahre gelernt habe, ist es noch einmal etwas ganz anderes die Sprache wirklich im alltäglichen Leben anzuwenden  und die Tatsache mich bei Verständigungsschwierigkeiten auf mein Englisch verlassen zu können, gibt mir erst einmal etwas Sicherheit.

Mit der Marschrutka, einer Art Kleinbus geht es nun auf zur Wohnung. Diese liegt in der 8. Etage in einer der schon aus Kiew bekannten alten Plattenbauten aus der Sowjetzeit, in denen hier anscheinend die meisten Menschen leben, da ich weder in Kiew noch auf der Fahrt mit der Marschrutka durch Dnipropetrowsk irgendwelche anderen Wohngebäude gesehen habe. Wenigstens gibt es einen Aufzug, der zwar in ähnlichem Zustand ist wie das Schreckens-Modell aus dem Kiewer Hostel, wenigstens aber etwas größer ist. Die Einrichtung der Wohnung ist schwer in Worte zufassen. Alles wirkt ein bisschen wie aus einer anderen Zeit, jeder Platz scheint ausgenutzt worden zu sein. Die Wohnung besteht aus einer Küche, einem Badezimmer, einem Wohnzimmer, Julias Zimmer und meinem Zimmer. Ich wundere mich ein bisschen, da ich kein Zimmer für Kirill, Julias 16-jährigen Sohn, sehen kann. Julia erklärt mir, dass er früher in meinem Zimmer gewohnt hat und jetzt im Wohnzimmer schlafen wird. Sofort bekomme ich natürlich ein schlechtes Gewissen. Aus E-Mails weiß ich, dass Julia und Kirill mein Zimmer während des Sommers extra für mich renoviert haben und man kann sehen, dass sie sich Mühe gegeben haben.

Da heute der erste Schultag ist, muss sich Julia, nachdem sie mir die Wohnung gezeigt hat, auf den Weg zur Schule machen. Ich habe indessen zum Glück ein bisschen Ruhe und Zeit für mich und kann mich ein wenig mit meiner neuen Umgebung vertraut machen und schlafen.

Am Nachmittag kommt Julia von der Schule zurück und wir verbringen die meiste Zeit zusammen in der Küche, wo ich ihr helfe zu kochen und wir uns die ganze Zeit unterhalten und uns so langsam kennenlernen. Am Abend ist schon fast das ganze Eis gebrochen und ich bin sehr erleichtern, dass wir sehr gut miteinander auszukommen scheinen. Die anfängliche etwas gespannte Unsicherheit vom Morgen löst sich und ich fühle mich jetzt hier sehr willkommen.
Später kommt auch Kirill nach Hause. Auch er scheint sehr nett, spricht aber nur sehr sehr wenig Englisch.

Am nächsten Morgen geht es dann auf zur Schule. Die Schule ist leider ungefähr 45 bis 60 Minuten mit der Marschrutka von der Wohnung entfernt. Die Schule macht auf mich einen überraschend positiven Eindruck. Im Vergleich zu den anderen Gebäuden die ich bis jetzt hier in der Ukraine gesehen habe, macht sich schon bemerkbar, dass es eine Waldorfschule ist. Julia führt mich in der Schule herum und stellt mich den Lehrern vor. Dann werde ich auch Xenia vorgestellt, dem gehbehinderten Mädchen, dem ich helfen soll und ich schnuppere in die ersten Unterrichte rein.

So langsam fange ich also an alles kennenzulernen.

Na starove Kiew!

Nach nur zwei Flugstunden kommen Carla, Luisa und ich heile, wenn auch etwas zermatscht (anscheinend war ich nicht der einzige, der die von der Fluggesellschaft angegebene Handgepäckgewichtsgrenze obligatorisch und nicht optional genommen hat, sodass der ohnehin schon knapp bemessene Freiraum auch komplett mit Gepäck gefüllt war), in einem so fern scheinenden Land an. Wir sind am Kiewer Flughafen gelandet. Nach dem üblichen Gedrängel beim Verlassen des Flugzeugs, Pass- und Visakontrolle und dem erleichterten Wiedersehen aller Gepäckstücke, gehen wir in den Empfangsbereich. Dort warten Lesija und Valerii von ALTERNATIVE-V auf uns.
ALTERNATIVE-V ist die zuständige Organisation hier in der Ukraine, die uns betreut und die meisten der organisatorischen und verwaltungstechnischen Angelegenheiten für uns regelt. 





Dass ich jetzt in der Ukraine bin, fühlt sich sehr surreal an. Wir sind gerade mal zwei Stunden von zu Hause weg und doch sollen wir im, von deutscher Warte aus, so fernen Osteuropa sein. Dank modernem Luftverkehr ist das Reisen zwar eindeutig schneller geworden (wenn auch nicht unbedingt bequemer), doch die Entfernung lässt sich nicht mehr spüren. Ich fühle mich nicht ganz hier und nicht ganz dort, hängengeblieben in einem unrealen Land zwischen Deutschland und der Ukraine. 





Mit dem Auto geht es nun auf in Richtung Kiewer Stadtmitte, wo sich das Büro von ALTERNATIVE-V befindet. Zuvor beim Einsteigen sucht Carla verzweifelt nach dem Anschnallgurt, doch es heißt nur „Das ist nicht nötig. Ihr seid nicht mehr in Deutschland.“ Auf der Fahrt bekommen wir alle unseren ersten Eindruck von der Ukraine. Soweit ist schon mal auffällig, dass die Schnellstraßen mehr Alleen aus Werbetafeln sind und die Skyline der Vororte von riesigen und hässlichen Betonklotz-Wohnungen dominiert wird.

Im Zentrum von Kiew sieht es da schon etwas anders aus. Viele monumental wirkende und reichlich verzierte Prunkbauten zieren die Innenstadt. Alles wirkt sehr groß, fast schon überladen. Es ist ein beruhigendes Gefühl, dass wir wenigstens zu dritt in dieser riesigen und fremden Stadt sind.



Dieses beruhigende Gefühl verfliegt sehr schnell, als wir im Büro von ALTERNATIVE-V angekommen sind. Dort erfahren wir, dass Luisa und Carla die erste Nacht jeweils in den Unterkünften verbringen werden, in denen sie auch während ihres Freiwilligendienstes hier in der Ukraine wohnen sollen, da ihre Projekte auch in Kiew sind. Ich hingegen soll für zwei Nächten in einem Hostel (so etwas wie eine Jugendherberge) unterkommen, bis ich schließlich weiterfahre nach Dnipropetrowsk, wo mein Projekt sich befindet. Wir bekommen ukrainische Griwnjas (Geld), einen Stadtplan und die Anweisung überreicht, morgen um 11.00 Uhr an der Metrostation in der Nähe vom Büro zu sein. Die Aussicht in einer fremden Großstadt alleine das Untergrundnetz zu benutzen, nicht wissend, wo die nächste Station vom Hostel aus sich befindet und wie das mit dem U-Bahn-Fahren hier überhaupt funktioniert, ist nicht gerade beruhigend und ich fühle mich etwas alleingelassen und ausgesetzt.

Es geht also mit dem Auto zu unseren Unterkünften. Als erstes fahren wir zu dem Hostel. Als Valerii den Wagen parkt, schaue ich mich um, kann aber nichts erkennen, dass wie der Eingang zu so etwas wie einer Jugendherberge aussieht. Stattdessen steuern wir auf eine unscheinbare Stahltür in einer nackten Betonwand zu. Das Ganze wirkt wie der Hinterausgang einer alten Lagerhalle. An der Tür befindet sich eine Art Zahlenschloss aus kleinen stiftförmigen Knöpfen mit den Zahlen 1 bis 10. Valerii tippt eine Zahlenkombination ein, mechanisch entriegelt sich die Tür und gibt den alten Treppenflur eines Wohngebäudes preis. Alleine eingezwängt mit meinem Gepäck in einem sargähnlichen Fahrstuhl durchlebe ich ein paar beängstigende Sekunden. Der Fahrstuhl scheint schon seine besten Jahre hinter sich zu haben – mit altem Kaugummi dekoriert lassen sich die Knöpfe für die Etagen gerade noch so bedienen, so etwas wie eine Notrufanlage ist erst gar nicht vorhanden, geschweige denn die aus deutschen Fahrstühlen bekannten TÜV-Siegel oder Angaben zur Belastungsgrenze des Fahrstuhls. Willkommen in der Ukraine!
Erleichtert zwänge ich mich und mein Gepäck wieder aus dem Fahrstuhl und schwöre mir beim nächsten Mal die Treppe zu nehmen, egal wie schwer mein Koffer auch ist.
Die anderen warten schon vor einer ebenfalls ganz unscheinbar und sehr verschlossen wirkenden Stahltür. Nichts weist auf die Existenz eines Hostels hin, alles wirkt sehr kalt und nackt. Soweit habe ich kein wirklich gutes Gefühl dabei hier die Nacht zu verbringen.
Die Tür wird von einer jungen Dame in knappem Leoparden-Spitzennegligee geöffnet und ich befürchte schon, dass man mich als nett gemeinte Willkommensgeste in einem ganz „besonderen“ Etablissement unterbringen will. Als ich allerdings durch die Tür trete, eröffnet sich mir der Blick auf ein doch recht schön und modern eingerichtetes Hostel. Direkt vom Eingansflur abgehend, befinden sich auf der einen Seite zwei große Schlafräume mit mehren Etagenbetten und auf der anderen Seite drei Badezimmer, die mehr als passabel erscheinen. Am Ende des Flurs ist ein wohnzimmerähnlicher Aufenthaltsraum, ausgestattet mit einer gemütlichen Sitzecke, einer Küchenzeile, einem Flachbildschirmfernseher und einem kleinen Schreibtisch. Die junge Dame ist so etwas wie die moderne Form der „Herbergsmutter“, zumindest ist sie für die Verteilung der Zimmer zuständig und meine Ansprechpartnerin bei Fragen.

Ich bekomme einen Schlafplatz in einem der Schlafräume zugewiesen, verstaue meine Sachen und mache mich dann auf zu erkunden, wen es noch in so ein Hostel in Kiew verschlagen hat. Anscheinend ist hier fast jede Ecke der Welt vertreten. Aus China, Australien, Neuseeland, USA, Kanada, Polen, der Schweiz, Frankreich, GB, Spanien, Litauen, Russland und noch weiteren Ländern hat es vorwiegend junge Menschen hierher nach Kiew gezogen. Genauso verschieden wie die Nationalitäten sind, sind auch die Gründe warum ein jeder hier ist. Manche sind zum Party machen gekommen, andere sind auf Weltreise, wiederum andere sind geschäftlich unterwegs. Es ist eine illustre Truppe und sofort werde ich von einigen zu Wodka und kleinen Snacks eingeladen. Ich bekomme hier die Gastfreundschaft der Welt zu spüren.
Immer wieder wird „Na starove!“ (zum Wohl) gerufen und der Wodka nachgekippt, der ganz und gar nicht wie die mit Nagellackentferner-Aroma anmutenden und Speiseröhre verätzenden in Deutschland erwerbbaren Varianten schmeckt, sondern wie der Name eigentlich schon sagt, runter geht wie ein kleines „Wässerchen“. Erst jetzt breitet sich das Gefühl aus, angekommen zu sein...




Am nächsten Morgen (Samstag) klappt die Suche nach der nächsten Metrostation überraschend gut. In der Metrostation kaufe ich mir an einem Schalter sogenannte Jetons (kleine Plastikchips), die, wie ich mir vorher im Hostel habe sagen lassen, als „Fahrkarte“ für die Metro dienen. Um zu der U-Bahn zu kommen, muss man ein Jeton in einen mit Lichtschranke kontrollierten Durchgang einwerfen und dann eine Rolltreppe runter fahren, die einen über eine Länge von mehr als 200 Metern im wahrsten Sinne des Wortes in den Untergrund befördert. Zum Glück muss ich nur eine Station fahren, um zu dem vereinbarten Treffpunkt zu kommen. Trotz riesiger Menschenströme, ausgespien von den U-Bahnen, schaffen wir es glücklicherweise uns alle zu finden. Lesija und Jena, eine weitere Mitarbeiterin von ALTERNATIVE-V, machen mit uns eine Stadtführung durch Kiew und geben uns danach noch ein paar Aufgaben, wie bei einer Stadtrallye, die wir zu dritt erfüllen müssen.

Eine Aufgabe der Stadtrallye ist, ein Foto mit einer Gruppe Ukrainer zu machen. Auf dem zentralen Platz in Kiew wird zur Zeit gerade eine ukrainische Tanzshow abgedreht, bei der Gruppen von mehr als hundert Tänzern angeleitet von einem Starchoreographen in Formation tanzen. Das Ganze wird meist aus der Vogelperspektive gefilmt, da die Gruppen verschiedene Muster oder Formen bilden. Die Tänzergruppen stammen alle jeweils aus einer Stadt der Ukraine und die verschiedenen Städte treten hier gegeneinander an. Name der Show ist Maidan’s, wobei das Wort „Maidan“ im ukrainischen „Platz“ bedeutet und durch das angefügte „’s“ eine zweideutige Konnotation bekommt, da es sich wie das Englisch „my dance“ anhört. Carla, Luisa und ich schauen eine Weile fasziniert zu und kommen dann auf die Idee, ein paar von den verkleideten Tänzern von Maidain’s mit uns vor die Linse zu bekommen, für die Gruppenfoto-Aufgabe der Stadtrallye. Allerdings befinden sich die Tänzer auf einem durch einen Zaun abgesperrten Areal. Trotzdem schaffen wir es mit Hilfe von Gebärdensprache, ein paar Brocken Russisch und einigen nicht ganz verstandenen Erklärungsversuchen in Englisch, eine kleine Gruppe von Tänzern zum Zaun zu bekommen und ein Foto mit ihnen zu machen. Hier das Resultat:



Am Sonntag morgen treffen wird uns diesmal im Büro von ALTERNATIVE-V, wo man uns über die zahlreichen organisatorische Angelegenheiten aufklärt und wir uns auch über unsere Projekte und unsere Freiwilligendienste unterhalten.
Abends werde ich von Valerii mit dem Auto zum Bahnhof gebracht, von wo ich mit dem Nachtzug nach Dnipropetrowsk fahren werde.

Auf Wiedersehen Kiew! Willkommen nächstes Abenteuer!

„Aufbrechen“

Um meinem alten Schul-Ich („Klukas Lerner“) gerecht zu werden, muss ich diesen Blogeintrag mit ein paar wichtigtuerischen Fremdwörtern und einer Dudendefinition beginnen:

„aufbrechen“ – Verb, unregelmäßig; Bedeutungen:
  1. transitiv: öffnen, aufmachen, trennen
  2. transitiv metaphorisch: lockern, lösen, etwas loswerden, alte Strukturen aufbrechen
  3. transitiv: auf den Weg machen, sich entfernen

Es ist also so weit! Nach Stapeln von ausgefüllten Formularen, gleich mehreren Vorbereitungsseminaren, unzähligen Telefonaten und Mails mit meiner Entsendeorganisation und einem Gefühlswirrwarr von mehreren schwerfallenden Verabschiedungen, breche ich schließlich frühmorgens am 2. September vom Dortmunder Hauptbahnhof auf. Ich sitze im Zug nach Frankfurt Airport, wo ich mich mit Carla und Luisa treffen werde, die ebenfalls als Freiwillige in die Ukraine fahren.
Ich bin nun auf dem Weg in die Ukraine!
Auf einmal ist es mir sehr bewusst, dass ich wirklich aufbreche. Aufbreche von meinem gewohnten Umfeld, meiner Familie, meinen Freunden, alles Bekannte aufbreche auf der Suche nach etwas Neuem. Ich breche auf von Schulrhythmus, gewohntem Essen und mit einem Abiturkampfgewicht von ... kg (unerklärlicherweise funktionieren die Tasten für die Zahlen auf meinem Computer gerade nicht) und bin gespannt, wie sich alles in der Ukraine entwickeln wird.


Trotz in weiser Voraussicht eingeplantem Zeitpuffer, werde ich etwas nervös als aus den vom Bahnpersonal durchgesagten „10 Minuten Verspätung“ so langsam 40 Minuten werden. Naja, typisch DB!
Dennoch komme ich mit nicht allzu großer Verspätung an und lasse mich auf dem riesigen Frankfurter Flughafen von Schildern, den Menschenmassen und einer SMS von einer meiner Mitreisenden glücklicherweise zum richtigen Terminal und zum richtigen Ticket-Schalter treiben.

Am Schalter angekommen atme ich erleichtert aus, als mein Gepäckstück auf die Waage gestellt wird und genau 20 kg angezeigt werden. Mit einem anerkennenden „sehr gut“ zu meinem Koffergewicht, wird mir meine Boardkarte vom Schalterpersonal ausgehändigt und ich mache mich auf, Carla und Luisa zu finden, die ihre Gepäckstücke schon eingecheckt haben. Zusammen geht es nun durch die diversen Sicherheitsschleusen auf zum Flieger, endgültig auf in die Ukraine.

Auf Wiedersehen, wir brechen auf!

Ich packe meinen Koffer und nehme mit ...?

Kofferpacken für fast ein Jahr ist eine hochkomplizierte Angelegenheit. Vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass ich eine während des ukrainischen Winters warmhaltende Kaltklimaausrüstung mitnehmen muss. Doch diese wird wohl erst einmal in Deutschland bleiben und ich lasse sie mir in die Ukraine nachschicken, aufgrund der mageren 20 kg, die mir erlaubt sind mitzunehmen.
Auch ohne Winterausrüstung ist es schwer genug, alles in meinem Koffer zu verstauen und so wird der Koffer gleich mehrmals auf die Waage gestellt und wie an der Wursttheke wird immer wieder etwas weggenommen oder hinzugelegt, bis die angestrebten 20 kg erreicht sind.
Da natürlich nicht alles in meinen Koffer passt, muss ich dann die Handgepäck-Gewichtsgrenze voll ausreizen. Ich freue mich wie ein Honigkuchenpferd, als ich nach sorgfältigem Ausmessen feststelle, dass meine Sporttasche genau den erlaubten Höchstmaßen für ein Handgepäckstück entspricht und ganz im Sinne der Geschlechtergleichheit werde ich einfach stur meine Schultasche als das unter „Additional free carry-on articles“-deklarierte „Ladies handbag“ mitnehmen und auch noch vollstopfen.

Ich packe also meinen Koffer und nehme mit ...
... ein paar letzte Eindrücke von Deutschland, Aufregung und Vorfreude auf mein Abenteuer in der Ukraine und ein paar letzte Stunden mit meinen Lieben!

Zu diesem Blog

Liebe Leser,

auf diesem Blog werde ich über meine Erfahrungen, Eindrücke und Erlebnisse während meines 10-monatigen weltwärts Freiwilligendienstes in der Ukraine berichten. Ich heiße Sie/Euch alle herzlich willkommen durch diesen Blog ein Stück weit mit mir in das „ferne Osteuropa“ zu reisen.

Aber warum bin ich überhaupt in der Ukraine?

Die obligatorische Frage nach dem Abitur – „Und was machst du jetzt?“ – wurde mir natürlich nicht nur unzählige Male von Freunden, Eltern, Verwandten und Lehrern gestellt, sondern noch häufiger ist sie durch meinen eigenen Kopf gekreist.
Als ich schließlich ab Ende Februar dachte ich hätte mit „Ich gehe vor dem Studium erst einmal für einen Freiwilligendienst in die Ukraine.“ eine doch recht kluge Antwort gefunden, schienen nicht alle meine Meinung zu teilen. Auch wenn der Schritt ins Ausland vor dem Studium doch heutzutage eine hochgeschätzte Sache ist, ist Osteuropa nicht gerade die „Trend-Region“ für solche Aufenthalte und ich bekam von erstaunten, über wundernde bis hin zu verständnislosen Reaktionen auf meine Antwort. Daher hoffe ich, dass ich mit diesem Blog der doch etwas skeptischen Einstellung vieler gegenüber Osteuropa entgegenwirken kann und aus erster Hand etwas von der osteuropäischen Kultur und Lebensweise vermitteln kann.

Leider konnte ich diesen Blog erst so spät einrichten, da es einige Schwierigkeiten mit dem hiesigen Internet gab und so werden mit der Eröffnung dieses Blogs gleich mehrere Berichte auf einmal online geschaltet.

Wie alle Blogs, muss auch dieser von unten nach oben gelesen werden, um in chronologischer Reihenfolge zu bleiben (weil der neueste Bericht immer ganz oben ist)! Für jene, die von oben nach unten gelesen haben und nun an diese Stelle gekommen sind, ich hoffe es hatte auch seinen Reiz meine Erfahrungen rückläufig mitzuerleben. Allen anderen wünsche ich nun viel Spaß beim Lesen. Ich versuche in regelmäßigen Abständen meinen Blog auf den neusten Stand zu halten und weitere Erfahrungsberichte und Fotos hochzuladen.

Ich freue mich über jegliche Art von Rückmeldung, Kritik, Anmerkungen, Fragen, Vorschläge, etc. an lukas.werner@aol.com oder über die Kommentarfunktion auf dieser Seite.

Mit herzlichen Grüßen aus der Ukraine

Lukas