Ich muss zugeben, dass ich schon etwas aufgeregt bin. Nicht nur, dass ich zum ersten Mal mit einem Nachtzug fahre (und das dann auch noch in einem fremden Land), sondern weil am Ende der Fahrt mein Leben für das nächste Jahr auf mich wartet, mein Projekt, meine Gastfamilie, mein neues Zuhause.
Ich stelle fest, dass der Nachtzug eigentlich ein ganz komfortables Reisemittel ist. Ich schlafe in einem Abteil mit drei weiteren Passagieren und bin etwas überrascht, als sich alle drei komplett mit Schlafanzug und Abendhygiene für die Nacht fertig machen. Ich hatte mir das mit dem Nachtzug eher so vorgestellt, dass man einfach anstatt einem Sitz eine Art Liege hat und dort etwas dösen kann. Es gibt aber richtiges Bettzeug, Kopfkissen und sogar dünne Matratzen und so richte ich auch mein Schlaflager her und schlafe nicht nur im Zug sondern übernachte hier.
Zum Glück fährt der Zug Dnipropetrowsk als Endstation an. Die Reise dauert ca. 7 Stunden. Auch wenn ich die meiste Zeit davon schlafen konnte, fühle ich mich doch ganz schön fertig, als ich schließlich aus dem Zug aussteige.
Mein Herz fängt etwas an zu rasen. Gleich werde ich Julia treffen, meine Gastmutter. Wir haben schon mehrere E-Mails geschrieben, aber welcher Mensch hinter den Worten steckt, weiß ich natürlich noch nicht.
Ich und mein Gepäck machen uns den Bahnsteig entlang, auf die Suche nach Julia, die hier auf mich warten will.
Ich erblicke eine Frau, die ich schon von Fotos aus dem Internet kenne und auch sie scheint mich zu erkennen und geht auf mich zu. Wir begrüßen uns etwas unsicher. Man kann merken, dass die Situation für uns beide erst einmal merkwürdig ist. So viel hängt für uns beide daran, dass wir uns verstehen, da wir fast ein Jahr nicht nur zusammen wohnen werden, sondern auch noch zur gleichen Arbeit gehen werden. Julia ist Englischlehrerin an der Schule, wo auch ich arbeiten werde. Deshalb spricht sie zum Glück auch Englisch. Obwohl ich Russisch in der Schule über 10 Jahre gelernt habe, ist es noch einmal etwas ganz anderes die Sprache wirklich im alltäglichen Leben anzuwenden und die Tatsache mich bei Verständigungsschwierigkeiten auf mein Englisch verlassen zu können, gibt mir erst einmal etwas Sicherheit.
Mit der Marschrutka, einer Art Kleinbus geht es nun auf zur Wohnung. Diese liegt in der 8. Etage in einer der schon aus Kiew bekannten alten Plattenbauten aus der Sowjetzeit, in denen hier anscheinend die meisten Menschen leben, da ich weder in Kiew noch auf der Fahrt mit der Marschrutka durch Dnipropetrowsk irgendwelche anderen Wohngebäude gesehen habe. Wenigstens gibt es einen Aufzug, der zwar in ähnlichem Zustand ist wie das Schreckens-Modell aus dem Kiewer Hostel, wenigstens aber etwas größer ist. Die Einrichtung der Wohnung ist schwer in Worte zufassen. Alles wirkt ein bisschen wie aus einer anderen Zeit, jeder Platz scheint ausgenutzt worden zu sein. Die Wohnung besteht aus einer Küche, einem Badezimmer, einem Wohnzimmer, Julias Zimmer und meinem Zimmer. Ich wundere mich ein bisschen, da ich kein Zimmer für Kirill, Julias 16-jährigen Sohn, sehen kann. Julia erklärt mir, dass er früher in meinem Zimmer gewohnt hat und jetzt im Wohnzimmer schlafen wird. Sofort bekomme ich natürlich ein schlechtes Gewissen. Aus E-Mails weiß ich, dass Julia und Kirill mein Zimmer während des Sommers extra für mich renoviert haben und man kann sehen, dass sie sich Mühe gegeben haben.
Da heute der erste Schultag ist, muss sich Julia, nachdem sie mir die Wohnung gezeigt hat, auf den Weg zur Schule machen. Ich habe indessen zum Glück ein bisschen Ruhe und Zeit für mich und kann mich ein wenig mit meiner neuen Umgebung vertraut machen und schlafen.
Am Nachmittag kommt Julia von der Schule zurück und wir verbringen die meiste Zeit zusammen in der Küche, wo ich ihr helfe zu kochen und wir uns die ganze Zeit unterhalten und uns so langsam kennenlernen. Am Abend ist schon fast das ganze Eis gebrochen und ich bin sehr erleichtern, dass wir sehr gut miteinander auszukommen scheinen. Die anfängliche etwas gespannte Unsicherheit vom Morgen löst sich und ich fühle mich jetzt hier sehr willkommen.
Später kommt auch Kirill nach Hause. Auch er scheint sehr nett, spricht aber nur sehr sehr wenig Englisch.
Am nächsten Morgen geht es dann auf zur Schule. Die Schule ist leider ungefähr 45 bis 60 Minuten mit der Marschrutka von der Wohnung entfernt. Die Schule macht auf mich einen überraschend positiven Eindruck. Im Vergleich zu den anderen Gebäuden die ich bis jetzt hier in der Ukraine gesehen habe, macht sich schon bemerkbar, dass es eine Waldorfschule ist. Julia führt mich in der Schule herum und stellt mich den Lehrern vor. Dann werde ich auch Xenia vorgestellt, dem gehbehinderten Mädchen, dem ich helfen soll und ich schnuppere in die ersten Unterrichte rein.
So langsam fange ich also an alles kennenzulernen.
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