Nach nur zwei Flugstunden kommen Carla, Luisa und ich heile, wenn auch etwas zermatscht (anscheinend war ich nicht der einzige, der die von der Fluggesellschaft angegebene Handgepäckgewichtsgrenze obligatorisch und nicht optional genommen hat, sodass der ohnehin schon knapp bemessene Freiraum auch komplett mit Gepäck gefüllt war), in einem so fern scheinenden Land an. Wir sind am Kiewer Flughafen gelandet. Nach dem üblichen Gedrängel beim Verlassen des Flugzeugs, Pass- und Visakontrolle und dem erleichterten Wiedersehen aller Gepäckstücke, gehen wir in den Empfangsbereich. Dort warten Lesija und Valerii von ALTERNATIVE-V auf uns.
ALTERNATIVE-V ist die zuständige Organisation hier in der Ukraine, die uns betreut und die meisten der organisatorischen und verwaltungstechnischen Angelegenheiten für uns regelt.
Dass ich jetzt in der Ukraine bin, fühlt sich sehr surreal an. Wir sind gerade mal zwei Stunden von zu Hause weg und doch sollen wir im, von deutscher Warte aus, so fernen Osteuropa sein. Dank modernem Luftverkehr ist das Reisen zwar eindeutig schneller geworden (wenn auch nicht unbedingt bequemer), doch die Entfernung lässt sich nicht mehr spüren. Ich fühle mich nicht ganz hier und nicht ganz dort, hängengeblieben in einem unrealen Land zwischen Deutschland und der Ukraine.
Mit dem Auto geht es nun auf in Richtung Kiewer Stadtmitte, wo sich das Büro von ALTERNATIVE-V befindet. Zuvor beim Einsteigen sucht Carla verzweifelt nach dem Anschnallgurt, doch es heißt nur „Das ist nicht nötig. Ihr seid nicht mehr in Deutschland.“ Auf der Fahrt bekommen wir alle unseren ersten Eindruck von der Ukraine. Soweit ist schon mal auffällig, dass die Schnellstraßen mehr Alleen aus Werbetafeln sind und die Skyline der Vororte von riesigen und hässlichen Betonklotz-Wohnungen dominiert wird.
Im Zentrum von Kiew sieht es da schon etwas anders aus. Viele monumental wirkende und reichlich verzierte Prunkbauten zieren die Innenstadt. Alles wirkt sehr groß, fast schon überladen. Es ist ein beruhigendes Gefühl, dass wir wenigstens zu dritt in dieser riesigen und fremden Stadt sind.
Dieses beruhigende Gefühl verfliegt sehr schnell, als wir im Büro von ALTERNATIVE-V angekommen sind. Dort erfahren wir, dass Luisa und Carla die erste Nacht jeweils in den Unterkünften verbringen werden, in denen sie auch während ihres Freiwilligendienstes hier in der Ukraine wohnen sollen, da ihre Projekte auch in Kiew sind. Ich hingegen soll für zwei Nächten in einem Hostel (so etwas wie eine Jugendherberge) unterkommen, bis ich schließlich weiterfahre nach Dnipropetrowsk, wo mein Projekt sich befindet. Wir bekommen ukrainische Griwnjas (Geld), einen Stadtplan und die Anweisung überreicht, morgen um 11.00 Uhr an der Metrostation in der Nähe vom Büro zu sein. Die Aussicht in einer fremden Großstadt alleine das Untergrundnetz zu benutzen, nicht wissend, wo die nächste Station vom Hostel aus sich befindet und wie das mit dem U-Bahn-Fahren hier überhaupt funktioniert, ist nicht gerade beruhigend und ich fühle mich etwas alleingelassen und ausgesetzt.
Es geht also mit dem Auto zu unseren Unterkünften. Als erstes fahren wir zu dem Hostel. Als Valerii den Wagen parkt, schaue ich mich um, kann aber nichts erkennen, dass wie der Eingang zu so etwas wie einer Jugendherberge aussieht. Stattdessen steuern wir auf eine unscheinbare Stahltür in einer nackten Betonwand zu. Das Ganze wirkt wie der Hinterausgang einer alten Lagerhalle. An der Tür befindet sich eine Art Zahlenschloss aus kleinen stiftförmigen Knöpfen mit den Zahlen 1 bis 10. Valerii tippt eine Zahlenkombination ein, mechanisch entriegelt sich die Tür und gibt den alten Treppenflur eines Wohngebäudes preis. Alleine eingezwängt mit meinem Gepäck in einem sargähnlichen Fahrstuhl durchlebe ich ein paar beängstigende Sekunden. Der Fahrstuhl scheint schon seine besten Jahre hinter sich zu haben – mit altem Kaugummi dekoriert lassen sich die Knöpfe für die Etagen gerade noch so bedienen, so etwas wie eine Notrufanlage ist erst gar nicht vorhanden, geschweige denn die aus deutschen Fahrstühlen bekannten TÜV-Siegel oder Angaben zur Belastungsgrenze des Fahrstuhls. Willkommen in der Ukraine!
Erleichtert zwänge ich mich und mein Gepäck wieder aus dem Fahrstuhl und schwöre mir beim nächsten Mal die Treppe zu nehmen, egal wie schwer mein Koffer auch ist.
Die anderen warten schon vor einer ebenfalls ganz unscheinbar und sehr verschlossen wirkenden Stahltür. Nichts weist auf die Existenz eines Hostels hin, alles wirkt sehr kalt und nackt. Soweit habe ich kein wirklich gutes Gefühl dabei hier die Nacht zu verbringen.
Die Tür wird von einer jungen Dame in knappem Leoparden-Spitzennegligee geöffnet und ich befürchte schon, dass man mich als nett gemeinte Willkommensgeste in einem ganz „besonderen“ Etablissement unterbringen will. Als ich allerdings durch die Tür trete, eröffnet sich mir der Blick auf ein doch recht schön und modern eingerichtetes Hostel. Direkt vom Eingansflur abgehend, befinden sich auf der einen Seite zwei große Schlafräume mit mehren Etagenbetten und auf der anderen Seite drei Badezimmer, die mehr als passabel erscheinen. Am Ende des Flurs ist ein wohnzimmerähnlicher Aufenthaltsraum, ausgestattet mit einer gemütlichen Sitzecke, einer Küchenzeile, einem Flachbildschirmfernseher und einem kleinen Schreibtisch. Die junge Dame ist so etwas wie die moderne Form der „Herbergsmutter“, zumindest ist sie für die Verteilung der Zimmer zuständig und meine Ansprechpartnerin bei Fragen.
Ich bekomme einen Schlafplatz in einem der Schlafräume zugewiesen, verstaue meine Sachen und mache mich dann auf zu erkunden, wen es noch in so ein Hostel in Kiew verschlagen hat. Anscheinend ist hier fast jede Ecke der Welt vertreten. Aus China, Australien, Neuseeland, USA, Kanada, Polen, der Schweiz, Frankreich, GB, Spanien, Litauen, Russland und noch weiteren Ländern hat es vorwiegend junge Menschen hierher nach Kiew gezogen. Genauso verschieden wie die Nationalitäten sind, sind auch die Gründe warum ein jeder hier ist. Manche sind zum Party machen gekommen, andere sind auf Weltreise, wiederum andere sind geschäftlich unterwegs. Es ist eine illustre Truppe und sofort werde ich von einigen zu Wodka und kleinen Snacks eingeladen. Ich bekomme hier die Gastfreundschaft der Welt zu spüren.
Immer wieder wird „Na starove!“ (zum Wohl) gerufen und der Wodka nachgekippt, der ganz und gar nicht wie die mit Nagellackentferner-Aroma anmutenden und Speiseröhre verätzenden in Deutschland erwerbbaren Varianten schmeckt, sondern wie der Name eigentlich schon sagt, runter geht wie ein kleines „Wässerchen“. Erst jetzt breitet sich das Gefühl aus, angekommen zu sein...
Am nächsten Morgen (Samstag) klappt die Suche nach der nächsten Metrostation überraschend gut. In der Metrostation kaufe ich mir an einem Schalter sogenannte Jetons (kleine Plastikchips), die, wie ich mir vorher im Hostel habe sagen lassen, als „Fahrkarte“ für die Metro dienen. Um zu der U-Bahn zu kommen, muss man ein Jeton in einen mit Lichtschranke kontrollierten Durchgang einwerfen und dann eine Rolltreppe runter fahren, die einen über eine Länge von mehr als 200 Metern im wahrsten Sinne des Wortes in den Untergrund befördert. Zum Glück muss ich nur eine Station fahren, um zu dem vereinbarten Treffpunkt zu kommen. Trotz riesiger Menschenströme, ausgespien von den U-Bahnen, schaffen wir es glücklicherweise uns alle zu finden. Lesija und Jena, eine weitere Mitarbeiterin von ALTERNATIVE-V, machen mit uns eine Stadtführung durch Kiew und geben uns danach noch ein paar Aufgaben, wie bei einer Stadtrallye, die wir zu dritt erfüllen müssen.
Eine Aufgabe der Stadtrallye ist, ein Foto mit einer Gruppe Ukrainer zu machen. Auf dem zentralen Platz in Kiew wird zur Zeit gerade eine ukrainische Tanzshow abgedreht, bei der Gruppen von mehr als hundert Tänzern angeleitet von einem Starchoreographen in Formation tanzen. Das Ganze wird meist aus der Vogelperspektive gefilmt, da die Gruppen verschiedene Muster oder Formen bilden. Die Tänzergruppen stammen alle jeweils aus einer Stadt der Ukraine und die verschiedenen Städte treten hier gegeneinander an. Name der Show ist Maidan’s, wobei das Wort „Maidan“ im ukrainischen „Platz“ bedeutet und durch das angefügte „’s“ eine zweideutige Konnotation bekommt, da es sich wie das Englisch „my dance“ anhört. Carla, Luisa und ich schauen eine Weile fasziniert zu und kommen dann auf die Idee, ein paar von den verkleideten Tänzern von Maidain’s mit uns vor die Linse zu bekommen, für die Gruppenfoto-Aufgabe der Stadtrallye. Allerdings befinden sich die Tänzer auf einem durch einen Zaun abgesperrten Areal. Trotzdem schaffen wir es mit Hilfe von Gebärdensprache, ein paar Brocken Russisch und einigen nicht ganz verstandenen Erklärungsversuchen in Englisch, eine kleine Gruppe von Tänzern zum Zaun zu bekommen und ein Foto mit ihnen zu machen. Hier das Resultat:
Am Sonntag morgen treffen wird uns diesmal im Büro von ALTERNATIVE-V, wo man uns über die zahlreichen organisatorische Angelegenheiten aufklärt und wir uns auch über unsere Projekte und unsere Freiwilligendienste unterhalten.
Abends werde ich von Valerii mit dem Auto zum Bahnhof gebracht, von wo ich mit dem Nachtzug nach Dnipropetrowsk fahren werde.
Auf Wiedersehen Kiew! Willkommen nächstes Abenteuer!
Hallo ihr drei!
AntwortenLöschenDas ist eine sehr schöne Web-Seite und würde mit "mehr Bilder" noch besser aussehen. Schaut mal auf meine Web-Seite: www.meinkiev.blogspot.com . Danke!
Leider hat Kiev kein Flughafen, ihr meint Borispol und das ist ca. 30 km von Kiev entfernt. Man kann vom Airport Borispol zum Hauptbahnhof Kiev Pass mit einem Schattelbus für 10,00 Griwna (1 Euro) fahren. Die meisten wissen es nicht, dass es nur ein Militärflughafen in Kiev gibt und dort landen keine Zivile Maschinen. In Borispol gibt es 3 mal die "Taxi Mafia" und es kann sehr teuer werden, wenn man nach Kiev möchte. Am besten man nimmt den Bus. Ich wünsche euch noch viel Spaß an dieser Page. Frohe Weihnachten für EUCH.
Gruß Jürgen Faber - Braunschweig - Germany