Auf kaum ein anderes Land richten zurzeit die deutschen Medien ihre Aufmerksamkeit so intensiv
wie auf die Ukraine. Die Fußball Europameisterschaft 2012, die die Ukraine
zusammen mit Polen ausrichten wird, beginnt in fast fünf Wochen, die Inhaftierung
und der Umgang mit der ehemaligen Premierministerin Julija Timoschenko wird als
äußerst fragwürdig betrachtet und dann ereignete sich auch noch am letzten
Freitag eine Serie von Bombenexplosionen in Dnipropetrovsk, im Süd-Osten der
Ukraine. Genau dort in Dnipropetrovsk absolviere ich zurzeit einen
entwicklungspolitischen Freiwilligendienst an einer Schule, an der ich Deutsch und Englisch unterrichte und Schüler mit
besonderen Bedürfnissen betreue.
Aus den Nachrichten scheinen Ereignisse immer so fern.
Berichte, Beschreibungen, Bilder – wir nehmen sie wahr, doch was sie zeigen
scheint uns selten unmittelbar zu betreffen und oft sehr weit weg. Doch auf
einmal bin ich mitten in den Ereignissen drin. Ich bin in der Ukraine, die aus
deutscher Sicht so weit entfernt scheint, und erfahre nicht nur aus den Medien
von den Geschehnissen, sondern bin ganz nah dran.
Es war eine sehr bestürzende Erfahrung für mich, Bombenexplosionen
mit vielen verletzten Menschen ausgerechnet in der Stadt, in der ich meinen
Freiwilligendienst absolviere, zu erleben. Ich hätte nie mit so etwas
gerechnet. Als ich erfuhr, dass im Stadtzentrum Bomben gezündet worden waren,
war ich gerade in der Schule. Die Nachricht von den Explosionen verbreitete
sich wie ein Lauffeuer durch die ganze Schule. Die Schüler reagierten allesamt
unterschiedlich und wussten nicht so richtig wie sie mit dieser nie dagewesenen
Situation umgehen sollten. Einige schienen geradezu panisch, für manche war es
aber auch einfach nur aufregend. Das Telefonnetz brach kurz darauf zusammen
durch die Flut der gleichzeitig getätigten Anrufe. Im Internet wurde die Anzahl
der Explosionen immer weiter nach oben korrigiert. Letztendlich gab es vier
Explosionen, doch zeitweise hieß es, es seien mehr als zehn gewesen. Es war ein
bizarres Gefühl in der Schule zu sitzen, voller Ungewissheit darüber was
wirklich passiert war.
Jetzt, etwa eine Woche nach der Bombenserie, scheint
bemerkenswert schnell wieder vollkommene Normalität in Dnipropetrovsk
eingekehrt zu sein. In Deutschland allerdings wird der Fall Timoschenko,
möglicherweise noch angeheizt durch die Bombenexplosionen, weiter heiß
diskutiert. Die Aufrufe zum Boykott der EM von Seiten der deutschen Politik und
anderer europäischer Politikgrößen werden immer vehementer. Hier in der Ukraine
selber wird über Timoschenko kaum bis überhaupt nicht gesprochen. Die
Politikverdrossenheit im Land ist gewaltig. Mir scheint es so, als würden sich
die Menschen machtlos gegenüber der Korruption und Willkür im Staatsapparat
fühlen. Eine der ersten Reaktionen auf die Bombenserie, die ich mitbekommen
habe, kam von einem Lehrer: „Diese Anschläge werden dem Staat als Vorwand
dienen, noch mehr Kontrolle über die Gesellschaft auszuüben.“
Es ist wirklich sehr schade mitzuerleben, dass einige vermeintliche
Repräsentanten ein schlechtes Licht auf ein ganzes Land werfen. Mir tut dies
besonders leid, weil ich persönlich erleben darf, wie gastfreundlich, herzlich
und außerordentlich die Menschen in diesem Land sind. Dieses Land hat so viele
beeindruckende und tolle Facetten, die derzeit leider sehr stark von den
negativen Ereignissen überschattet werden.