Sonntag, 18. Dezember 2011

Begegnungen


Das Eintauchen in ein komplett anderes Lebensumfeld ist mit der Begegnung vieler neuen Menschen verbunden, was zugleich Risiken als auch Chancen birgt. Risiken, weil man gerade als Fremder in einer anderen Kultur nicht weiß, wem man begegnen wird und vor allem, wie einem die Menschen in diesem Land begegnen werden. Chancen, weil man die Möglichkeit bekommt, von neuen Menschen kennengelernt zu werden, die in einem vielleicht etwas anderes erkennen als das bis dahin schon Bekannte - wodurch man auch sich selbst noch einmal auf andere Art erleben und kennenlernen kann.

Der österreichischen Dramatiker und Erzähler Arthur Schnitzler schreibt „Man kann sich wohl den Weg wählen,
aber nicht die Menschen, denen man begegnet.“ In diesem Sinne, habe ich wohl das Glück den richtigen Weg gewählt zu haben, da ich bis jetzt während meines Freiwilligendienstes so vielen interessanten und tollen Menschen begegnet bin.

Dieser Blogbericht ist deshalb den Menschen gewidmet, denen ich hier bisher begegnet bin. Einige sind zwar bereits in meinen Berichten aufgetaucht aber verdienen noch einige weitere Zeilen und natürlich auch noch eine visuelle Darstellung ihrer Person:


Meine Gastmutter Julia
Julia ist im wahrsten Sinne zu meiner Gastmutter geworden. Ich werde von ihr weiterhin fleißig bekocht und umsorgt. Sie steht mir immer zur Seite, wenn ich Hilfe brauche. Da sie Englischlehrerin bei mir an der Schule ist, kann ich mich vor allem mit ihr auch mal auf Englisch austauschen und so Sachen loswerden, die ich auf Russisch nicht so einfach ausdrücken könnte. Ich arbeite hauptsächlich in ihren Englischunterrichten mit bzw. leite Kleingruppen, sodass ich auch die Möglichkeit habe mich mit ihr über die Schüler und den Unterricht auszutauschen und Unterstützung von ihr zu bekommen, wenn es nötig ist.
Praktischer Weise gibt sie mir auch Russischunterricht und ist sehr engagiert mein Russisch zu verbessern.
Neben der Schule ist Julia vor allem mit Tanzen beschäftigt. Vier bis fünf Mal in der Woche geht sie nach der Schule Irish Dancing, Stepp und verschiedene Volkstanzstile tanzen. Einmal war ich mit ihr beim Tanzen und habe sogar mitgemacht. Allerdings hat das Ganze meine Koordinationsfähigkeit weit überschritten. Wie immer sind Sachen, die einfach aussehen in Wirklichkeit viel schwieriger. Und das, was dort getanzt wurde, sah noch nicht einmal einfach aus. Seit einiger Zeit bietet das Sportlehrer-Paar von unserer Schule, das professionell Standard tanzt, drei mal in der Woche Standarttanzunterricht an für alle, die interessiert sind, wo Julia meistens auch noch hingeht. Julia ist also ein richtiger Tanz- Junkie.
Für mich am wichtigsten ist aber natürlich, dass Julia und ich einfach super miteinander auskommen und ich bin sehr dankbar dafür, dass ich sie habe.


Mein Gastbruder Kirill
Kirill ist frischgebackene 17 Jahre alt, geht in die 11. Klasse und ist damit in seinem Abschlussjahr auf der Schule hier in der Ukraine. Die Begeisterung fürs Tanzen liegt wohl im Blut, denn auch Kirill tanzt drei mal pro Woche HipHop. Die Affinität zu Fremdsprachen hat sich allerdings irgendwie rausgemendelt. Kirill spricht nur sehr wenig Englisch, aber zum Glück bin ich mittlerweile im Russischen fit genug, dass wir uns gut unterhalten können. Neben dem Tanzen hat Kirill noch zwei Mal in der Woche Klavierunterricht und wir beide haben zusammen angefangen Gitarre- und Gesangsunterricht zu nehmen. Wenn er zu Hause ist, sitzt er meistens am PC und spielt irgendwelche Computerspiele oder treibt sich auf der russische Version von Facebook „V-Kontakte“ rum. Zu seinem Vater, Julias Ex-Mann, hat Kirill nur sehr wenig Kontakt. Was Kirill nach der Schule machen möchte, weiß er, wie mir scheint, noch nicht so genau. Da die Schüler hier in der Ukraine schon nach der 11. Klasse mit der Schule fertig sind, müssen sie sich relativ früh (meiner Meinung nach zu früh) entscheiden, was sie werden wollen. Bei Kirill wird es aber wahrscheinlich so in die Richtung Design, Kunst oder Architektur gehen.




Meine Gastoma Ljuda
Ljuba, die Mutter von Julia, wohnt ganz in der Nähe von uns und ist so auch öfter mal bei uns. Sie ist noch relativ jung für eine Oma (ich denke so Ende 50) und ruft ungefähr gefühlte 100 Mal am Tag Julia an, um ihr irgendetwas zu sagen, zu erzählen oder etwas zu fragen. Ansonsten ist sie aber ein herzensguter Mensch und genau wie Julia eine hervorragende Köchin, die uns oft irgendwelche Leckereien vorbeibringt.








Die Lehrer und Schüler in meinem Projekt
Mittlerweile fühle ich mich richtig heimisch in meinem Projekt. Alle Lehrer sind sehr freundlich zu mir und mit vielen ist es schon richtig kollegial geworden. Seit mehreren Wochen gebe ich nun auch noch zwei Mal in der Woche einen Deutschkurs für mehrere Lehrer, die mich darum gebeten haben, weil sie gerne Deutsch lernen wollen.
Zu den Schülern habe ich auch ein super Verhältnis. Die meistens sind sehr offen mir gegenüber, kommen auf mich zu und grüßen mich immer. Vor allem die Schüler, die ich auch unterrichte, sind mir inzwischen richtig ans Herz gewachsen.


Mein Verein
Mit der leisen Hoffnung, in der Ukraine die Möglichkeit zu haben, weiter Badminton zu spielen (da ich in Deutschland schon seit mehreren Jahren Badminton im Verein gespielt habe), habe ich meinen Badmintonschläger mit in mein Gepäck gezwängt, auch wenn ich nicht wirklich damit rechnete, in der Ukraine einen Verein zu finden. Letztendlich stellte sich aber heraus, dass Badminton hier ein richtiger Breitensport ist. So habe ich in den ersten Wochen während meiner Zeit hier gleich mehrere Vereine ausprobieren können und habe schließlich den PERFEKTEN Verein gefunden! Die Trainingshalle lässt sich in ca. 10 Minuten zu Fuß von der Schule aus erreichen, sodass ich oft länger in der Schule bleibe, da es sich nicht lohnt, den Heimweg von über einer Stunde anzutreten. Die Spieler im Verein sind alles richtige Supertalente und viele spielen schon seit sie einen Schläger halten können. Oft wird hier noch wie zu Sowjetzeiten sehr auf Drill trainiert, wobei die Trainer aber alle  super freundlich sind. Jeden Tag außer Sonntags findet gleich zu mehreren Zeiten Training statt und ich habe hier so eine Liebe zu diesem Sport bekommen, dass ich 4 bis 6 mal die Woche trainiere, teilweise sogar schon morgens um 8.00 Uhr bevor ich Unterricht habe. Mein Alltag dreht sich also im hauptsächlich um Schule und Badminton.
Mit den meisten Spielern aus meinem Verein habe ich mich schon richtig angefreundet und komme gut mit ihnen aus, auch wenn viele jünger sind, weil die meisten älteren Spieler schlichtweg zu gut spielen. Alle sind ziemlich ehrgeizig und ein paar Spieler haben sogar bei der Junioren-Europameisterschaft im Badminton im November diesen Jahres teilgenommen, die in Portugal stattfand. 

Die Halle befindet sich neben dem alten Fußballstadion
von FC Dnipround schon ein Banner weist auf Russisch darauf
hin, dass man hier "Badminton" spielen kann

Außenansicht der Halle



Innenansicht der Halle

Der Besuch der deutschen Austauschschüler
Schon im letzten Bericht habe ich erwähnt, dass Anfang November eine Delegation von deutschen Austauschschülern für knapp zwei Wochen zu uns an die Schule gekommen ist. Die Schüler und zwei Lehrer waren von der Waldorfschule aus Engstingen (Baden-Württemberg), die die deutsche Partnerschule von der Dnipropetrovsker Waldorfschule ist. Wie bereits schon geschrieben, findet dieser Austausch zwischen den beiden Schulen schon seit mehr als 10 Jahren statt. Jedes Jahr fahren die 9.-Klässler der Dnipropetrovsker Waldorfschule am Ende des Schuljahrs für knappe zwei Wochen nach Deutschland und im November kommen dann die deutschen Schüler in die Ukraine.
In der Zeit als die Deutschen hier waren, war einiges los und ich war ganz schön beschäftigt. Ständig stand irgendetwas auf dem Programm und ich habe auch noch jeden Morgen Englisch mit einigen der deutschen Schüler im Hauptunterricht (die ersten beiden Schulstunden) gemacht, neben noch weiteren extra Unterrichtsstunden mit den Deutschen. Am Wochenende, nach der Anreise der Deutschen, sind wir alle zusammen mit den ukrainischen Gastgeberschülern ins Fußballstadion gegangen. Es kam zur Begegnung zwischen FC Dnipro und Arsenal Cherkassy. Das Ergebnis des Spiels: 1:0 für FC Dnipro, für den wir natürlich mitgejubelt hatten. Mein Ergebnis des Spiels: Naja, wenn man aus Dortmund kommt ist man ja etwas fußballverwöhnt (sowohl was die Stimmung im Stadion als auch die Qualität des Fußballs angeht), deshalb war es jetzt nicht der Riesenknaller, aber immerhin schon interessant, einmal die Stimmung in einem ausländischen Fußballstation mitzubekommen.
Der Besuch der deutschen Austauschschüler war eine ganz besondere Begegnung
und zwar nicht nur für mich, sondern in vielerlei Hinsicht auch für die ukrainischen und deutschen Schüler. Für mich waren die knapp zwei Wochen des Besuchs insofern sehr interessant, weil ich die Möglichkeit hatte, zu beobachten wie junge Schüler aus zwei ganz verschiedenen Welten aufeinander treffen und miteinander umgehen. Außerdem konnte ich mich mal so richtig als Lehrer erproben, da ich nun mit Hilfe meiner eigenen Muttersprache unterrichten konnte. Ich durfte mit einem bescheidenden Lächeln auf den Lippen und gesteigertem Selbstvertrauen im Herzen von den Schülern Sätze wie „Du musst unbedingt Lehrer werden!“ oder „Willst du nicht zu uns an die Schule kommen und uns weiter unterrichten?“ entgegennehmen.


 Simon (deut.), Vlad (ukr.), Kirill, Paula (deut.) und Adrean (ukr.) (v. l. n. r.):
 Freitag vor dem Fußballspiel haben alle bei uns übernachtet
und am nächsten Morgen wurde erst einmal UNO gespielt

Christian und Guido (beide Lehrer von der Waldorfschule in Engstingen)
waren zusammen mit Nikolai (mit Julia zusammen Klassenbetreuer der 10. Klasse,
also der Gastgeberklasse) und seiner Frau bei uns zum Essen eingeladen

Samuel (deut.), Vova (ukr.), Olja (ukr.) und ich:
Im Stadion, ausgestattet mit Fanschals

Luca, Simon, ich, Vlad und Paula vor dem Stadion 


Natürlich bin ich bis jetzt noch vielen anderen Menschen begegnet und auch die Spieler aus meinem Verein, die Lehrer und die Schüler wurden von mir nur im Kollektiv erwähnt. Allerdings würde es den Rahmen sprengen, jede Begegnung detailliert zu beschreiben. Und mit „Rahmen sprengen“ meine ich, es wäre mir schlichtweg auch zu viel, weil es so viel zu schreiben gäbe. Wer also die Menschen in meinem Umfeld noch genauer kennenlernen möchte, der muss mich wohl einfach einmal besuchen kommen!

Grüße in alle Himmelsrichtungen!

Euer Genosse Lukas

Donnerstag, 1. Dezember 2011

Von Gucci-Deutsch, Paarvernichtung und der Definition einer Kreis(verkehr)stadt

Ein Besuch in Kiew ist immer allein deshalb schon lohnenswert, weil man auf aufregend unberechenbare Weise nie voraussagen kann, was man erleben wird. Man muss einfach auf das nächste Erlebnis, das nächste Abenteuer warten.
So fahre ich auch vollkommen unorganisiert und ohne Plan (die Ukrainisierung hat schon ganze Arbeit geleistet und mich entdeutschisiert) am letzten Oktoberwochenende nach Kiew, da ich von meiner betreuenden Organisation in der Ukraine ALTERNATIVE-V zum "Volunteer's Day" eingeladen wurde, eine Veranstaltung mit sowohl den ausländischen als auch den inländischen Freiwilligen von ALTERNATIVE-V.

In der letzten Oktober-Woche habe ich passender Weise auch Herbstferien und so fahre ich schon am Mittwoch Abend mit dem Nachtzug nach Kiew. Am Donnerstag Morgen komme ich dann in aller Herrgottsfrühe um 6:00 Uhr in Kiew an und gönne mir im Bahnhofs-MCDonald's erstmal ein "Хэппи Мил" (Chäppi Mil = Happy Meal) zum Frühstück. Nach dieser kleinen Stärkung stürze ich mich dann ins Gewusel der Metrostation, um mich zum Hostel aufzumachen, in dem ich auch schon das erste Mal in Kiew übernachtet habe (beim ersten Bericht über Kiew habe ich übrigens ganz vergessen zu erwähnen, dass das Hostel den traumhaften Namen „Dream Hostel“ hat – nomen est omen, fragt ihr euch? Ja, ich denke für ukrainische Verhältnisse auf jeden Fall). Es folgte eine kleine Odyssee durch Kiews Untergrundnetz, weil ich blöder Weise vergessen habe, wie die Metrostation heißt, wo sich das Hostel befindet. Nach mehren Fehlversuchen habe ich es aber schließlich doch geschafft und bin an der richtigen Metrostation ausgestiegen.
Ich mache mich auf die Suche nach der unscheinbaren Stahltür, durch die ich das letzte Mal unerwarteter Weise zum Dream Hostel gekommen bin. Zum Glück ist sie immer noch da (in der Ukraine weiß man da nie – letztens war einfach mal die Bude verschwunden, an der wir uns immer unser Trinkwasser holen. Nach einem Tag ist sie allerdings wieder aufgetaucht und stand am üblichen Platz als wäre nichts gewesen) und auch der Türcode des mechanischen Zahlenschlosses hat sich nicht geändert, sodass ich mir Zutritt verschaffen kann. Eine Mischung aus ukrainischer Abgeklärtheit, Faulheit und Draufgängertum lassen mich sogar den sargähnlichen Aufzug benutzen, den ich beim letzten Mal entschieden gemieden habe.

Nachdem ich mich im Dream Hostel ein bisschen ausgeruht und frisch gemacht habe, geht es dann auf zum Büro von ALTERNATIVE-V. Obwohl der Volunteers Day erst einen Tag später (am Freitag) ist, hat man mich gebeten schon Donnerstag ins Büro zu kommen, um ein paar Dinge abzuklären. Nach ein paar kleinen organisatorischen Angelegenheiten bezüglich meines Freiwilligendienstes, wird mir schließlich eröffnet, dass man sich gedacht habe, ich könne doch die Moderation des Volunteers Days übernehmen, immerhin zusammen mit einer Mitarbeiterin von ALTERNATIVE-V. In der Ukraine entwickelt man eine gewisse Seelengelassenheit und die  Gewissheit, dass alles schon irgendwie hinhauen wird, und so kann mich diese Neuigkeit nicht wirklich beunruhigen. Also kein Stress und ich lasse das Ganze mal gelassen auf mich zukommen.

Später treffe ich mich dann mit Carla (eine der beiden Freiwilligen, mit denen ich zusammen in die Ukraine geflogen bin und die beide in Projekten in Kiew arbeiten). Wir gehen zusammen etwas im Пузата Хата essen, was so viel wie kugelbauchige Hütte heißt und die größte Restaurantkette in der Ukraine ist. An fast jeder Straßenecke im Land gibt es ein Пузата Хата und man kann für wenig Geld sehr gut typisch ukrainisch essen gehen. Danach machen wir uns auf den Weg zu Luisa (die andere Freiwillige). Sie gibt gerade einen Englischkurs in ihrem Projekt, von dem wir sie abholen und gemeinsam machen wir uns auf den Weg ins Zentrum von Kiew. Dort treffen wir uns mit Felix und André. Felix ist ebenfalls deutscher Freiwilliger, hat allerdings schon ein Jahr hier in der Ukraine verbracht und verlängert nun seinen Aufenthalt um ein weiters Jahr. Andre ist ein Freund von Felix und ukrainischer Student. Alle zusammen erkunden wir schließlich die Kiewer Kneipen (was für eine schöne Alliteration, oder?).
So unter Freiwilligen nutzen wir natürlich die Möglichkeit uns über die interessanten bis merkwürdigen Erlebnisse in den ersten zwei Monaten hier in der Ukraine auszutauschen. Carla hat zum Beispiel ein unangenehmes Problem mit Kakerlaken. Als abgehärteter Ukraine-Freiwilliger kann Felix Carla sofort weiterhelfen. Es folgt eine Anleitung wie man den Schädlingen beikommt, die nicht nur Carla ihr Gesicht verziehen ließ. Lasst nur so viel gesagt sein: eine giftige Chemikalie, Beinamputationen und zum Schluss ein Knackgeräusch spielen dabei eine Rolle. Carla hat sofort Skrupel, dass sie von der sich besonders für Tiere einsetzende Organisation PETA mit Farbbeuteln beschmissen wird, wenn sie die Vernichtung ihrer unliebsamen Mitbewohner auf diese brutale, allerdings einzige wirksame Weise angehen würde. Drei Kreuze, ein Klopfer auf meine Fensterbank (gilt Presssparn auch als Holz?) und was man noch so macht um sich vor Bösem zu bewahren, dass mir die Viecher fern bleiben.

Am nächsten Tag steht dann der Volunteers Day an. Der findet nicht, wie ich dachte, im eher kleinen Büro von ALTERNATIVE-V statt, sondern in einem doch recht großen extra gemieteten Veranstaltungsraum. Ich fühle mich in meinem Pulli und Jeans etwas underdressed neben den sich für das Event aufgestylten Mitarbeitern von ALTERNATIVE-V. Allerdings hatte ich auch nicht mit einer für ukrainische Verhältnisse sehr förmlichen und durchstrukturierten Veranstaltung gerechnet. So ca. 10 Minuten bevor es losgeht, gehe ich dann mit meiner Moderationspartnerin den Ablauf des Abends und das, was ich sagen soll, durch. Es folgt schließlich das eigentliche Event, bei dem über verschiedenen Möglichkeiten sich als Freiwilliger zu engagieren, referiert wird, Vorträge zu Umweltbewusstsein und Freiwilligenarbeit gehalten werden und mehrere Auszeichnungen an Mitarbeiter und ehemalige Freiwillige ausgehändigt werden. Danach gibt es noch Schnittchen, Tee und Gebäck, woran ich mich erst einmal reichlich bediene, weil ich den ganzen Tag noch nichts gegessen habe.

Nach der Veranstaltung lädt uns ALTERNATIVE-V noch spontan zum Bowlingspielen ein. Felix und Andre sind auch dabei. Etwas partyhungrig ziehen Carla, Luisa, Felix, Andre und ich, zusammen mit noch ein paar jungen ehemaligen ukrainischen Freiwilligen von ALTERNATIVE-V los, um uns eine Kneipe zu suchen. Wir landen schließlich in dem absoluten Kneipengeheimtipp von Kiew. Genauso unscheinbar wie auch das Dream Hostel, muss man zur Kneipe in einen dunklen Hinterhof und dann eine Kellertreppe runter gehen. Der doch sehr zwielichtige Zugangsweg zur Kneipe steht in schrillem Kontrast zu der modern eingerichteten Kneipe selber. Neben guter Musik und der coolen Einrichtung, sind es vor allem die Preise, die die Kneipe zu einem echten Geheimtipp werden lassen. Ein halber Liter Bier kostet hier umgerechnet 1 €!

Der Samstag verläuft eher unspektakulär. Erst einmal wird natürlich in Ruhe ausgeschlafen, auch wenn das etwas schwierig ist, denn in meinem Schlafraum im Dream Hostel befindet sich jemand, der dringend mal einen HNO konsultieren sollte, weil er so laut schnarcht als würde jemand direkt neben deinen Ohren ein paar trockene Klötze Holz zersägen. Nach ein paar interessanten Gesprächen mit den immer sehr interessanten Gästen vom Dream Hostel, gehe ich mit Varvara, eine ehemalige Freiwillige von ALTERNATIVE-V, Teilnehmerin unserer gestrigen Abendgesellschaft und ebenfalls Gast im Dream Hostel ein bisschen durch Kiew spazieren und wir treffen uns dann noch mit Carla und Luisa, die Varvara schon länger kennen, da sie mit ihr auf einem Seminar für Freiwillige hier in der Ukraine waren.

Am Samstag Abend mache ich mich dann wieder auf zum Bahnhof. Dort treffe ich mich mit einer Gruppe von Schülern und zwei Lehrern von der Waldorfschule in Enstingen (Baden-Württemberg), die für 10 Tage einen Schüleraustausch an meiner Schule in Dnipropetrovsk machen und den gleichen Zug nehmen wie ich. Dieser Austausch zwischen den beiden Schulen findet schon seit mehr als 10 Jahren statt. Jedes Jahr fahren die 9.-Klässler der Dnipropetrovsker Waldorfschule am Ende des Schuljahrs für knappe zwei Wochen nach Deutschland und im November kommen dann die deutschen Schüler in die Ukraine.
Sie haben etwas für mich mitgebracht! Da das Verschicken von Paketen und Post generell in der Ukraine so eine Sache ist (Carlas Paket mit Wintersachen ist zum Beispiel schon seit 3 Monaten verschollen und Luisa musste erst einmal aus heiterem Himmel 100 € bezahlen, weil auf ihrem Paket Wertsachen angegeben waren, die eine bestimmte Summe überschritten haben), hat im Vorfeld noch eine ausgetüftelte Übergabeaktion stattgefunden. Die deutsche Delegation ist mit dem Zug von Stuttgart über Berlin in die Ukraine gereist. Meine Mutter, zufällig am gleichen Tag unterwegs in einen Kurzurlaub nach Berlin, hat bei einem Zwischenstopp des Zuges eine Tasche mit meinen Wintersachen an einen der sehr freundlichen Lehrer in den Zug gereicht. So konnte ich am Samstag Abend meine wegen der zunehmenden Kälte schon heiß ersehnten Wintersachen in Empfang nehmen und in aller Ruhe den Nachtzug zurück nach Dnipropetrovsk nehmen.


Aber da war doch noch was, oder? Ach ja, die Überschrift! Warum also Gucci-Deutsch, Paarvernichtung und Kreis(verkehrs)stadt? Habe ich etwa in Kiew sinnlos überteuertes Highsociety-Deutsch benutzt, oder habe ich den Entkuppler für mehrere Liebespaare gespielt (so zusagen als eine Art Evil Twin von Cupido) oder die sehenswürdigen Kreisverkehre Kiews erkundet? Keineswegs! Diese Wörter sind unverhofft in Kiew geboren und sind so sinnfrei wie sagenhaft. Aus der Abi-Zeit ist man ja noch darauf getrimmt in alles etwas reininterpretieren zu können. Deshalb könnte ich jetzt zu Unrecht behaupten, dass diese Wörter sinnbildlich für diese Tage in Kiew stehen. Eigentlich sind sie aber nur das Ergebnis eines sehr lustigen Wochenendes in Kiew. Manchmal tut es nämlich einfach gut volle Wortgewalt zu haben und mit anderen Deutschen ein bisschen rumzualbern. So stelle ich euch jetzt Definition und Etymologie der Wörter wie immer mit viel Rumgeschweife und einem fröhlichen "Wusstet ihr schon..." vor:

Wusstet ihr schon, was da bei rumkommt, wenn ein Ukrainer versucht "gutes Deutsch" zu sagen? Die Antwort lautet "Gucci-Deutsch" und sie kam von André, als wir am ersten Abend alle zusammen etwas trinken waren. Das lustige Ergebnis mag dem Sprachmix aus Russisch, Englisch, Deutsch und Ukrainisch geschuldet sein, den wir an diesem Abend zur Kommunikation benutzten. Das Attribut "Gucci" wurde von da an als eine Art neuer Superlativ von "gut" fleißig weiterbenutzt.

Wusstet ihr schon, was das englische Wort "annihilation" bedeutet? Nein? Nicht schlimm, wir wussten es auch nicht als Carla und ich am Donnerstag Abend zum Ende von Luisas Englisch-Club dazu stießen und das Wort die Lösung beim Hangmännchen war, das kurz vor Schluss gespielt wurde. Sofort wurde das Wort im Smartphone-Dictionary nachgeschaut und neben der nicht wirklich weiterhelfenden Übersetzung "Annihilation", spuckte das Dictionary das seltsame Wort "Paarvernichtung" aus. Allerdings konnten wir auch damit nicht wirklich etwas anfangen. Was soll denn auch bitteschön eine Paarvernichtung sein? Doch wenn man kreativ genug ist, dann finden sich einige lustige Momente, in denen man diesen „Wort-Exoten“ verwenden kann. Probiert es aus, wenn ihr wollt!

Wusstet ihr eigentlich schon, wodurch sich eine Kreisstadt definiert? Wer jetzt eine mit Beamtendeutsch vollgepfropfte Definition parat hat, mag von der simplen und auf bizarre Weise nicht ganz unlogischen Definition von Luisa überrascht sein. Um den stolzen Titel "Kreisstadt" verliehen zu bekommen, muss man nämlich einfach mindestens 5 Kreisverkehre in seiner Stadt haben. Klingt komisch, ist aber so, würde jetzt Peter Lustig von Löwenzahn sagen. Auch wenn es leider nicht so ist, würde es doch die ganze Angelegenheit stark vereinfachen.

So, das war es jetzt aber. Bald mehr darüber wie die Zeit hier mit den deutschen Austauschschülern war, über so einige andere Begegnungen und wie es bei mir eigentlich mit dem Verständigen läuft.

Viele Grüße aus der Kreisverkehrstadt Dnipropetrovsk

Euer Lukas




Varvara, Luisa, Carla und ich