Donnerstag, 1. Dezember 2011

Von Gucci-Deutsch, Paarvernichtung und der Definition einer Kreis(verkehr)stadt

Ein Besuch in Kiew ist immer allein deshalb schon lohnenswert, weil man auf aufregend unberechenbare Weise nie voraussagen kann, was man erleben wird. Man muss einfach auf das nächste Erlebnis, das nächste Abenteuer warten.
So fahre ich auch vollkommen unorganisiert und ohne Plan (die Ukrainisierung hat schon ganze Arbeit geleistet und mich entdeutschisiert) am letzten Oktoberwochenende nach Kiew, da ich von meiner betreuenden Organisation in der Ukraine ALTERNATIVE-V zum "Volunteer's Day" eingeladen wurde, eine Veranstaltung mit sowohl den ausländischen als auch den inländischen Freiwilligen von ALTERNATIVE-V.

In der letzten Oktober-Woche habe ich passender Weise auch Herbstferien und so fahre ich schon am Mittwoch Abend mit dem Nachtzug nach Kiew. Am Donnerstag Morgen komme ich dann in aller Herrgottsfrühe um 6:00 Uhr in Kiew an und gönne mir im Bahnhofs-MCDonald's erstmal ein "Хэппи Мил" (Chäppi Mil = Happy Meal) zum Frühstück. Nach dieser kleinen Stärkung stürze ich mich dann ins Gewusel der Metrostation, um mich zum Hostel aufzumachen, in dem ich auch schon das erste Mal in Kiew übernachtet habe (beim ersten Bericht über Kiew habe ich übrigens ganz vergessen zu erwähnen, dass das Hostel den traumhaften Namen „Dream Hostel“ hat – nomen est omen, fragt ihr euch? Ja, ich denke für ukrainische Verhältnisse auf jeden Fall). Es folgte eine kleine Odyssee durch Kiews Untergrundnetz, weil ich blöder Weise vergessen habe, wie die Metrostation heißt, wo sich das Hostel befindet. Nach mehren Fehlversuchen habe ich es aber schließlich doch geschafft und bin an der richtigen Metrostation ausgestiegen.
Ich mache mich auf die Suche nach der unscheinbaren Stahltür, durch die ich das letzte Mal unerwarteter Weise zum Dream Hostel gekommen bin. Zum Glück ist sie immer noch da (in der Ukraine weiß man da nie – letztens war einfach mal die Bude verschwunden, an der wir uns immer unser Trinkwasser holen. Nach einem Tag ist sie allerdings wieder aufgetaucht und stand am üblichen Platz als wäre nichts gewesen) und auch der Türcode des mechanischen Zahlenschlosses hat sich nicht geändert, sodass ich mir Zutritt verschaffen kann. Eine Mischung aus ukrainischer Abgeklärtheit, Faulheit und Draufgängertum lassen mich sogar den sargähnlichen Aufzug benutzen, den ich beim letzten Mal entschieden gemieden habe.

Nachdem ich mich im Dream Hostel ein bisschen ausgeruht und frisch gemacht habe, geht es dann auf zum Büro von ALTERNATIVE-V. Obwohl der Volunteers Day erst einen Tag später (am Freitag) ist, hat man mich gebeten schon Donnerstag ins Büro zu kommen, um ein paar Dinge abzuklären. Nach ein paar kleinen organisatorischen Angelegenheiten bezüglich meines Freiwilligendienstes, wird mir schließlich eröffnet, dass man sich gedacht habe, ich könne doch die Moderation des Volunteers Days übernehmen, immerhin zusammen mit einer Mitarbeiterin von ALTERNATIVE-V. In der Ukraine entwickelt man eine gewisse Seelengelassenheit und die  Gewissheit, dass alles schon irgendwie hinhauen wird, und so kann mich diese Neuigkeit nicht wirklich beunruhigen. Also kein Stress und ich lasse das Ganze mal gelassen auf mich zukommen.

Später treffe ich mich dann mit Carla (eine der beiden Freiwilligen, mit denen ich zusammen in die Ukraine geflogen bin und die beide in Projekten in Kiew arbeiten). Wir gehen zusammen etwas im Пузата Хата essen, was so viel wie kugelbauchige Hütte heißt und die größte Restaurantkette in der Ukraine ist. An fast jeder Straßenecke im Land gibt es ein Пузата Хата und man kann für wenig Geld sehr gut typisch ukrainisch essen gehen. Danach machen wir uns auf den Weg zu Luisa (die andere Freiwillige). Sie gibt gerade einen Englischkurs in ihrem Projekt, von dem wir sie abholen und gemeinsam machen wir uns auf den Weg ins Zentrum von Kiew. Dort treffen wir uns mit Felix und André. Felix ist ebenfalls deutscher Freiwilliger, hat allerdings schon ein Jahr hier in der Ukraine verbracht und verlängert nun seinen Aufenthalt um ein weiters Jahr. Andre ist ein Freund von Felix und ukrainischer Student. Alle zusammen erkunden wir schließlich die Kiewer Kneipen (was für eine schöne Alliteration, oder?).
So unter Freiwilligen nutzen wir natürlich die Möglichkeit uns über die interessanten bis merkwürdigen Erlebnisse in den ersten zwei Monaten hier in der Ukraine auszutauschen. Carla hat zum Beispiel ein unangenehmes Problem mit Kakerlaken. Als abgehärteter Ukraine-Freiwilliger kann Felix Carla sofort weiterhelfen. Es folgt eine Anleitung wie man den Schädlingen beikommt, die nicht nur Carla ihr Gesicht verziehen ließ. Lasst nur so viel gesagt sein: eine giftige Chemikalie, Beinamputationen und zum Schluss ein Knackgeräusch spielen dabei eine Rolle. Carla hat sofort Skrupel, dass sie von der sich besonders für Tiere einsetzende Organisation PETA mit Farbbeuteln beschmissen wird, wenn sie die Vernichtung ihrer unliebsamen Mitbewohner auf diese brutale, allerdings einzige wirksame Weise angehen würde. Drei Kreuze, ein Klopfer auf meine Fensterbank (gilt Presssparn auch als Holz?) und was man noch so macht um sich vor Bösem zu bewahren, dass mir die Viecher fern bleiben.

Am nächsten Tag steht dann der Volunteers Day an. Der findet nicht, wie ich dachte, im eher kleinen Büro von ALTERNATIVE-V statt, sondern in einem doch recht großen extra gemieteten Veranstaltungsraum. Ich fühle mich in meinem Pulli und Jeans etwas underdressed neben den sich für das Event aufgestylten Mitarbeitern von ALTERNATIVE-V. Allerdings hatte ich auch nicht mit einer für ukrainische Verhältnisse sehr förmlichen und durchstrukturierten Veranstaltung gerechnet. So ca. 10 Minuten bevor es losgeht, gehe ich dann mit meiner Moderationspartnerin den Ablauf des Abends und das, was ich sagen soll, durch. Es folgt schließlich das eigentliche Event, bei dem über verschiedenen Möglichkeiten sich als Freiwilliger zu engagieren, referiert wird, Vorträge zu Umweltbewusstsein und Freiwilligenarbeit gehalten werden und mehrere Auszeichnungen an Mitarbeiter und ehemalige Freiwillige ausgehändigt werden. Danach gibt es noch Schnittchen, Tee und Gebäck, woran ich mich erst einmal reichlich bediene, weil ich den ganzen Tag noch nichts gegessen habe.

Nach der Veranstaltung lädt uns ALTERNATIVE-V noch spontan zum Bowlingspielen ein. Felix und Andre sind auch dabei. Etwas partyhungrig ziehen Carla, Luisa, Felix, Andre und ich, zusammen mit noch ein paar jungen ehemaligen ukrainischen Freiwilligen von ALTERNATIVE-V los, um uns eine Kneipe zu suchen. Wir landen schließlich in dem absoluten Kneipengeheimtipp von Kiew. Genauso unscheinbar wie auch das Dream Hostel, muss man zur Kneipe in einen dunklen Hinterhof und dann eine Kellertreppe runter gehen. Der doch sehr zwielichtige Zugangsweg zur Kneipe steht in schrillem Kontrast zu der modern eingerichteten Kneipe selber. Neben guter Musik und der coolen Einrichtung, sind es vor allem die Preise, die die Kneipe zu einem echten Geheimtipp werden lassen. Ein halber Liter Bier kostet hier umgerechnet 1 €!

Der Samstag verläuft eher unspektakulär. Erst einmal wird natürlich in Ruhe ausgeschlafen, auch wenn das etwas schwierig ist, denn in meinem Schlafraum im Dream Hostel befindet sich jemand, der dringend mal einen HNO konsultieren sollte, weil er so laut schnarcht als würde jemand direkt neben deinen Ohren ein paar trockene Klötze Holz zersägen. Nach ein paar interessanten Gesprächen mit den immer sehr interessanten Gästen vom Dream Hostel, gehe ich mit Varvara, eine ehemalige Freiwillige von ALTERNATIVE-V, Teilnehmerin unserer gestrigen Abendgesellschaft und ebenfalls Gast im Dream Hostel ein bisschen durch Kiew spazieren und wir treffen uns dann noch mit Carla und Luisa, die Varvara schon länger kennen, da sie mit ihr auf einem Seminar für Freiwillige hier in der Ukraine waren.

Am Samstag Abend mache ich mich dann wieder auf zum Bahnhof. Dort treffe ich mich mit einer Gruppe von Schülern und zwei Lehrern von der Waldorfschule in Enstingen (Baden-Württemberg), die für 10 Tage einen Schüleraustausch an meiner Schule in Dnipropetrovsk machen und den gleichen Zug nehmen wie ich. Dieser Austausch zwischen den beiden Schulen findet schon seit mehr als 10 Jahren statt. Jedes Jahr fahren die 9.-Klässler der Dnipropetrovsker Waldorfschule am Ende des Schuljahrs für knappe zwei Wochen nach Deutschland und im November kommen dann die deutschen Schüler in die Ukraine.
Sie haben etwas für mich mitgebracht! Da das Verschicken von Paketen und Post generell in der Ukraine so eine Sache ist (Carlas Paket mit Wintersachen ist zum Beispiel schon seit 3 Monaten verschollen und Luisa musste erst einmal aus heiterem Himmel 100 € bezahlen, weil auf ihrem Paket Wertsachen angegeben waren, die eine bestimmte Summe überschritten haben), hat im Vorfeld noch eine ausgetüftelte Übergabeaktion stattgefunden. Die deutsche Delegation ist mit dem Zug von Stuttgart über Berlin in die Ukraine gereist. Meine Mutter, zufällig am gleichen Tag unterwegs in einen Kurzurlaub nach Berlin, hat bei einem Zwischenstopp des Zuges eine Tasche mit meinen Wintersachen an einen der sehr freundlichen Lehrer in den Zug gereicht. So konnte ich am Samstag Abend meine wegen der zunehmenden Kälte schon heiß ersehnten Wintersachen in Empfang nehmen und in aller Ruhe den Nachtzug zurück nach Dnipropetrovsk nehmen.


Aber da war doch noch was, oder? Ach ja, die Überschrift! Warum also Gucci-Deutsch, Paarvernichtung und Kreis(verkehrs)stadt? Habe ich etwa in Kiew sinnlos überteuertes Highsociety-Deutsch benutzt, oder habe ich den Entkuppler für mehrere Liebespaare gespielt (so zusagen als eine Art Evil Twin von Cupido) oder die sehenswürdigen Kreisverkehre Kiews erkundet? Keineswegs! Diese Wörter sind unverhofft in Kiew geboren und sind so sinnfrei wie sagenhaft. Aus der Abi-Zeit ist man ja noch darauf getrimmt in alles etwas reininterpretieren zu können. Deshalb könnte ich jetzt zu Unrecht behaupten, dass diese Wörter sinnbildlich für diese Tage in Kiew stehen. Eigentlich sind sie aber nur das Ergebnis eines sehr lustigen Wochenendes in Kiew. Manchmal tut es nämlich einfach gut volle Wortgewalt zu haben und mit anderen Deutschen ein bisschen rumzualbern. So stelle ich euch jetzt Definition und Etymologie der Wörter wie immer mit viel Rumgeschweife und einem fröhlichen "Wusstet ihr schon..." vor:

Wusstet ihr schon, was da bei rumkommt, wenn ein Ukrainer versucht "gutes Deutsch" zu sagen? Die Antwort lautet "Gucci-Deutsch" und sie kam von André, als wir am ersten Abend alle zusammen etwas trinken waren. Das lustige Ergebnis mag dem Sprachmix aus Russisch, Englisch, Deutsch und Ukrainisch geschuldet sein, den wir an diesem Abend zur Kommunikation benutzten. Das Attribut "Gucci" wurde von da an als eine Art neuer Superlativ von "gut" fleißig weiterbenutzt.

Wusstet ihr schon, was das englische Wort "annihilation" bedeutet? Nein? Nicht schlimm, wir wussten es auch nicht als Carla und ich am Donnerstag Abend zum Ende von Luisas Englisch-Club dazu stießen und das Wort die Lösung beim Hangmännchen war, das kurz vor Schluss gespielt wurde. Sofort wurde das Wort im Smartphone-Dictionary nachgeschaut und neben der nicht wirklich weiterhelfenden Übersetzung "Annihilation", spuckte das Dictionary das seltsame Wort "Paarvernichtung" aus. Allerdings konnten wir auch damit nicht wirklich etwas anfangen. Was soll denn auch bitteschön eine Paarvernichtung sein? Doch wenn man kreativ genug ist, dann finden sich einige lustige Momente, in denen man diesen „Wort-Exoten“ verwenden kann. Probiert es aus, wenn ihr wollt!

Wusstet ihr eigentlich schon, wodurch sich eine Kreisstadt definiert? Wer jetzt eine mit Beamtendeutsch vollgepfropfte Definition parat hat, mag von der simplen und auf bizarre Weise nicht ganz unlogischen Definition von Luisa überrascht sein. Um den stolzen Titel "Kreisstadt" verliehen zu bekommen, muss man nämlich einfach mindestens 5 Kreisverkehre in seiner Stadt haben. Klingt komisch, ist aber so, würde jetzt Peter Lustig von Löwenzahn sagen. Auch wenn es leider nicht so ist, würde es doch die ganze Angelegenheit stark vereinfachen.

So, das war es jetzt aber. Bald mehr darüber wie die Zeit hier mit den deutschen Austauschschülern war, über so einige andere Begegnungen und wie es bei mir eigentlich mit dem Verständigen läuft.

Viele Grüße aus der Kreisverkehrstadt Dnipropetrovsk

Euer Lukas




Varvara, Luisa, Carla und ich

2 Kommentare:

  1. ßpaßßiba LUKAS !!! "U TIBJA OTSCHIN PRIJATNAJA WREMJA"
    pakka....babuschkaM.

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  2. zu spät gemerkt, da fehlt leider das "ECT"

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