Montag, 7. Mai 2012

Zeitungsartikel 2

Auf kaum ein anderes Land richten  zurzeit die deutschen Medien ihre Aufmerksamkeit so intensiv wie auf die Ukraine. Die Fußball Europameisterschaft 2012, die die Ukraine zusammen mit Polen ausrichten wird, beginnt in fast fünf Wochen, die Inhaftierung und der Umgang mit der ehemaligen Premierministerin Julija Timoschenko wird als äußerst fragwürdig betrachtet und dann ereignete sich auch noch am letzten Freitag eine Serie von Bombenexplosionen in Dnipropetrovsk, im Süd-Osten der Ukraine. Genau dort in Dnipropetrovsk absolviere ich zurzeit einen entwicklungspolitischen Freiwilligendienst an einer Schule, an der ich Deutsch und Englisch unterrichte und Schüler mit besonderen Bedürfnissen betreue.

Aus den Nachrichten scheinen Ereignisse immer so fern. Berichte, Beschreibungen, Bilder – wir nehmen sie wahr, doch was sie zeigen scheint uns selten unmittelbar zu betreffen und oft sehr weit weg. Doch auf einmal bin ich mitten in den Ereignissen drin. Ich bin in der Ukraine, die aus deutscher Sicht so weit entfernt scheint, und erfahre nicht nur aus den Medien von den Geschehnissen, sondern bin ganz nah dran.

Es war eine sehr bestürzende Erfahrung für mich, Bombenexplosionen mit vielen verletzten Menschen ausgerechnet in der Stadt, in der ich meinen Freiwilligendienst absolviere, zu erleben. Ich hätte nie mit so etwas gerechnet. Als ich erfuhr, dass im Stadtzentrum Bomben gezündet worden waren, war ich gerade in der Schule. Die Nachricht von den Explosionen verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch die ganze Schule. Die Schüler reagierten allesamt unterschiedlich und wussten nicht so richtig wie sie mit dieser nie dagewesenen Situation umgehen sollten. Einige schienen geradezu panisch, für manche war es aber auch einfach nur aufregend. Das Telefonnetz brach kurz darauf zusammen durch die Flut der gleichzeitig getätigten Anrufe. Im Internet wurde die Anzahl der Explosionen immer weiter nach oben korrigiert. Letztendlich gab es vier Explosionen, doch zeitweise hieß es, es seien mehr als zehn gewesen. Es war ein bizarres Gefühl in der Schule zu sitzen, voller Ungewissheit darüber was wirklich passiert war.

Jetzt, etwa eine Woche nach der Bombenserie, scheint bemerkenswert schnell wieder vollkommene Normalität in Dnipropetrovsk eingekehrt zu sein. In Deutschland allerdings wird der Fall Timoschenko, möglicherweise noch angeheizt durch die Bombenexplosionen, weiter heiß diskutiert. Die Aufrufe zum Boykott der EM von Seiten der deutschen Politik und anderer europäischer Politikgrößen werden immer vehementer. Hier in der Ukraine selber wird über Timoschenko kaum bis überhaupt nicht gesprochen. Die Politikverdrossenheit im Land ist gewaltig. Mir scheint es so, als würden sich die Menschen machtlos gegenüber der Korruption und Willkür im Staatsapparat fühlen. Eine der ersten Reaktionen auf die Bombenserie, die ich mitbekommen habe, kam von einem Lehrer: „Diese Anschläge werden dem Staat als Vorwand dienen, noch mehr Kontrolle über die Gesellschaft auszuüben.“

Es ist wirklich sehr schade mitzuerleben, dass einige vermeintliche Repräsentanten ein schlechtes Licht auf ein ganzes Land werfen. Mir tut dies besonders leid, weil ich persönlich erleben darf, wie gastfreundlich, herzlich und außerordentlich die Menschen in diesem Land sind. Dieses Land hat so viele beeindruckende und tolle Facetten, die derzeit leider sehr stark von den negativen Ereignissen überschattet werden.





Mittwoch, 25. April 2012

Ukraine - 10 Ding, die ich an dir liebe


1. Die Wertschätzung von Lebensmitteln: Hier in der Ukraine wird nicht alles gleich weggeschmissen, was nicht mehr aussieht wie auf den Kochbuchfotos. Selbst in den großen Supermärkten wird nicht mehr ganz so schönes Obst und Gemüse einfach billiger verkauft und man kann es immer noch gut zum Kochen verwenden.

2. Die Osteuropäische Seele: Deutschland wird oft als Land der Dichter und Denker bezeichnet. Das heißt, zwar etwas klischeehaft betrachtet, wir Deutschen als Volksgrüppchen, handeln oft sehr rational, betrachten alles erst einmal von einer kritischen Warte aus und sind oft nicht so impulsiv und von unseren Gefühlen geleitet. Und um ehrlich zu sein, fehlt mir auch genau diese „Deutsche Mentalität“ oft hier im Ausland.  Aber dafür sind wir Deutschen halt manchmal etwas verklemmt und unspontan. Hier im Osten habe ich im Gegensatz dazu schon einige Male Situationen erlebt, die ich wahrscheinlich in Deutschland so nie gesehen hätte. Zum Beispiel fangen Schüler bei uns in der Schule manchmal einfach so an zu singen oder irgendein Instrument zu spielen, ohne sich groß Gedanken zu machen, ob das Ganze jetzt „aufführungsreif“ ist. Oder letztens in einer Einkaufsmall wurde Live-Musik gespielt und auf einmal fingen gleich mehre Leute einfach so an so zu tanzen, ohne groß darüber nachzudenken, ob sie sich vielleicht blamieren könnten. Außerdem sind die Ukrainer sehr herzlich und gastfreundlich und geben bei der Bewirtung von Gästen ihr Bestes.

3. Der Klang des Russischen: Die russische Sprache ist eine Sprache der Seele, die sich manchmal so richtig schön „schmettern“ lassen. Selbst in Alltagssituationen lässt sich das Russische oft mit enorm viel Pathos sprechen. Bestes Beispiel: das in den Marschrutkas  (Minibusse - lokales Haupttransportmittel in der Ukraine) regelmäßig zum Fahrer geschmetterte „Na ‘stanOhhhvka“, was übersetzt „An der Haltestelle“ heißt und den Fahrer auffordert dort anzuhalten.

4. Pusata Chata: Man mag von Restaurantketten halten was man möchte, aber Pusata Chata (was soviel bedeutet wir „dickbäuchige Hütte“) ist einfach nur eine gute Erfindung. Im Grunde ist Pusata Chata die ukrainische Antwort auf Fast-Food-Restaurants. Auch hier bekommt man sein Essen sehr günstig und schnell, nur dass es sich bei dem Essen um typisch ukrainische Gerichte handelt. In der „dickbäuchigen Hütte“ ist das Essen nicht nur billiger und leckerer als bei McDonald’s, Burger King und Co., die es durchaus in großer Zahl hier gibt, sondern auch die Atmosphäre und die Ausstattung ist wesentlich gemütlicher und einladender. Für jeden Ukraine-Touristen ist Pusata Chata ein absolutes Muss.

5. Die osteuropäische Gemütlichkeit: Sobald man zu Hause ist, schlüpft man sofort in seine „Chiller-Klamotten“. Egal ob Besuch kommt, Gemütlichkeit hat Vorrang. Zu Hause darf man Schlabber-Hose und sein bequemes  Lieblings-Shirt tragen, und zwar vollkommen gesellschaftlich legitimiert.

6. Das Taxi fahren in der Ukraine: Wie vieles hier im Osten ist eine Fahrt mit dem Taxi wesentlich günstiger im Vergleich zu Deutschland. Was aber besonders angenehm ist, dass man einfach bei der Taxizentrale anrufen muss, dort angibt von wo aus man wohin möchte und es wird einem sofort der Preis gesagt oder per Rückruf mitgeteilt. So weiß man genau woran man ist.

7. Das Bezahlen in der Marschrutka: Monatsticket? Zehnerkarte? Ach, so was gibt es hier alles nicht im öffentlichen Nahverkehr. Damit es aber nicht ewig dauert, bis alle einsteigenden Passagiere für die Fahrt bezahlt haben, ist es ganz üblich in den Marschrutkas das Fahrgeld (25 Cent!!! in Kiev für eine Fahrt von beliebiger Länge) einfach durchzureichen. Auch wer als einzelne Person einsteigt, sucht sich in der Regel erst einmal einen Platz und lässt dann das Geld nach vorne zum Fahrer durchgeben. Ich muss sagen, am Anfang hat mich das ganze auch etwas verwundert, aber mittlerweile ist es zur alltäglichen Normalität geworden in den Mini-Bussen Geld und Rückgeld hin- und herwandern zu lassen. Und man mag so viele Witze über stehlende Osteuropäer machen, wie man möchte, aber bis jetzt habe ich immer mein Wechselgeld als vollen Betrag zurückgereicht bekommen.

8. Der osteuropäischer Wodka: Nicht umsonst kommt uns als einer der ersten Dinge „Wodka“ in den Sinn, wenn wir an Russland oder den Osten denken. Denn zweifelsfrei kommt der beste Wodka aus dem Osten. Was bei uns in Deutschland eher wie Nagellackentferner riecht und bei purem Genuss in der Kehle brennt, wird hier im Osten seinem Name als „Wässerchen“ viel eher gerecht. Außerdem muss man hier für einen halben Liter guten Wodka gerade mal umgerechnet drei Euro ausgeben. Das bedeutet natürlich nicht, dass man bei jeder Gelegenheit Wodka trinkt.

9. Das Eisfischen: Unter den Einwohnern von Dnipropetrovsk scheint es eine Vielzahl von begeisterten Anglern zu geben. Nicht selten sieht man auf Brücken und am Flussufer des Dnjeprs Angler stehen. An warmen Tagen ist das Flussufer sogar geradezu gesäumt mit Anglern. Im Winter wurde es aber so kalt, dass doch gleich der ganze Dnjepr zugefroren ist. Und der Dnjepr ist jetzt nicht irgendein unbedeutendes Regionalgewässer, sondern immerhin der dritt längste Fluss in Europa und bei uns hier in Dnipropetrovsk an den meisten Stellen wesentlich breiter als der Rhein. Trotzdem wollte man wohl nicht auf das Angelvergnügen verzichten, denn an gleich mehren Stellen wurden Löcher in die Dicke Eisdecke gesägt und die Angelschnur hinab ins kalte Wasser gelassen. Das Ganze war einfach so wunderbar klischeehaft, wenn man die Männer mit ihren typischen russischen Fellmützen um ein Eisloch sitzen sah.

10. Der osteuropäische Ehrgeiz: Sei es in der Schule, beim Sport oder auch beim Erlernen eines Musikinstruments – in der Ukraine gibt es viel mehr Schüler, die sehr ehrgeizig sind und schon von Kindesbein an fleißig üben und trainieren. In der Regel werden die Kinder zwar von ihren Eltern dazu gepusht und das Training und der Unterricht haben oft noch was von dem sowjetischen Drill, aber in der Regel wird es auch von den Kindern selber gewollt. Alle sind sehr stolz darauf und strengen sich sehr an. Denn sie wissen auch, wenn man hier nichts wird, dann hat man im Grunde genommen nichts. So etwas wie Sozialhilfe gibt es nicht. Auch wenn ich ein Verfechter unseres Sozialstaatssystems in Deutschland bin, fehlt uns vielleicht manchmal der Sinn dafür unser Bestes zu geben.


Donnerstag, 16. Februar 2012

Anpfiff zur zweiten Halbzeit


Geläufige Verabschiedungsfloskeln wie "Die Zeit wird wie im Flug vergehen" haben sich im Volksmund nicht nur durchgesetzt weil sie schwerfallende Abschiede erleichtern, sondern weil in ihnen mehr Wahrheit steckt, als man beim Verabschieden selbst zu hoffen vermag. So sitze ich gerade im ukrainischen Dnipropetrovsk und frage mich wo nur die letzten 5 Monate hin sind? Der Alltag hat gierig Tag um Tag, Woche um Woche verschlungen und kaum dass ich mich versehe, ist schon der Zenit überschritten und die Zeit tickt jetzt gegen Ende meines Freiwilligendienstes.

Dass es wirklich schon so weit ist, wurde mir erst durch das Zwischenseminar klar, welches vor etwas mehr als einer Woche in Chisinau, der Hauptstadt Moldawiens, stattfand. Dort haben sich alle nach Osteuropa entsandten Freiwilligen meiner deutschen Organisation IJGD zusammengefunden, um die erste Hälfte Revue passieren zu lassen, sich auszutauschen und neue Impulse und Motivation für die zweite Halbzeit zu finden. Da wir uns alle schon von zwei intensiven Seminarwochen im vorherigen Sommer kannten, war es ein freudiges Wiedersehen bekannter Gesichter, vermisster deutscher Stimmen und wenn man so will auch Leidensgenossen. Denn aus den gegenseitigen Berichterstattungen wurde klar, dass sich zwischen unseren Erlebnissen, Eindrücken und Erfahrungen im Ostblock viele Parallelen ziehen lassen.
Gelebt und „seminarisiert“ haben wir in einem Hostel unweit vom Stadtzentrum Chisinaus. Dort haben wir uns auch selbst versorgt, was nicht immer ganz einfach war bei nur zwei halbfunktionierenden elektrischen Kochplatten, auf denen man für 12 Leute kochen musste. Aber da wir alle mittlerweile fünf Monate Ostsurvivaltraining hinter uns hatten, haben wir es dennoch fertig gestellt uns recht gut und lecker zu ernähren. Inhaltlich haben wir viel über unsere Projekte gesprochen, die eigene Arbeit reflektiert und politische und soziale Probleme in der Osteuroparegion besprochen. Für mich war das Seminar besonders deshalb wertvoll, da es einen Rahmen geboten hat, sich mit dem Verlauf der letzten fünf Monate bewusst auseinandersetzen und vor allem sich mit den anderen Freiwilligen auszutauschen, also mit Leuten die ähnliche Eindrücke und Probleme hatten.
Etwas befremdlich war allerdings die Hin- und Rückreise zum Seminar. Zum Seminar hin bin ich erst mit dem Nachtzug nach Kiew gefahren und bin von dort aus zusammen mit Carla, Luisa und Zoe (einer weiteren Freiwilligen aus Weißrussland) mit dem Reisebus nach Chisinau gefahren. Zurück konnte ich dann eine direkte Reisebusverbindung wieder nach Dnipropetrovsk nehmen. Sowohl die Einreise als auch die Ausreise aus Moldawien ist über Transnistrien, einem umkämpften, international nicht anerkannten De-Facto-Staat erfolgt. Damit hatten wir, größtenteils unbewusst, genau das gemacht, was in allen Reiseführern unter dem Vermerk „bitte vermeiden“ geführt wird. Allerdings hatten wir zum Glück keine Probleme. Wir mussten nur ungelogene 6 Mal unsere Reisepässe abgeben, die kontrolliert wurden. Leider konnte wir aber noch nicht einmal einen Mutprobenbeweis in Form eines Einreisestempels von Transnistrien mitnehmen, weil Moldawien den Stempel von Transnistiren nicht anerkennt und auch beim überqueren der transnistrischen Grenze ging der Reisepass leer aus, weil wir ja offiziell schon in Moldawien waren.

Wie es sich zum Bergfest gehört, hier nun auch noch eine kleine Zwischenauswertung. Das Zwischenseminar hat mich erkennen lassen, wie gefestigt und wohl ich mich in meinem Projekt fühle und wie sehr mir die Schüler, Lehrer und anderen Menschen aus meinem Umfeld hier ans Herz gewachsen sind. Mit dem Zwischenseminar ist auch der Anpfiff zur zweiten Halbzeit laut erklungen, die ich nun aufgewärmt (um in der Sportmetapher zu bleiben) auch noch erfolgreich zu ende führen und genießen möchte.

Wie versprochen kommt zum Schluss noch ein Wetterupdate. Ja, liebe Leserinnen und Leser, liebe Mails-, Nachrichten- und Kommentar-Schreiberinnen und –Schreiber aus Deutschland und anderen Teilen der Welt, ja, mittlerweile ist es hier richtig kalt geworden. Hab ich beim letzten Blogbericht noch das Wetter als „unspektakulär“ abgetan, so hat nun der Februar seinem ukrainischen Namen („der Heftige“ oder „der Scharfe“) alle Ehre gemacht. Ende Januar fiel das Thermometer innerhalb von nur zwei Tagen von 0 auf -23 Grad, zwei Tage dauerhafter Schneefall hinterließen ein weißgekleidetes „Winterwonderland“ und auch der Wind schien einen Zahn zuzulegen. Macht euch aber keine Sorgen. Der Schneefall hat nach den zwei Tagen schnell wieder aufgehört, das „Winterwonderland“ hat sich zu einer schmutzigen schwarz-braunen, nicht mehr ganz so „wonderfullen“ Eisschicht festgetreten. Auch wenn die Ukraine dadurch wieder ihren alten, etwas schmutzigen und kaputten Touch bekommen hat, muss ich mich wenigsten nicht auf Langlaufskiern zur Schule durchschlagen. Und an die frostigen Temperaturen habe ich mich auch schon gewöhnt. Man muss einfach artig das Zwiebel-Prinzip (das übrigens im russischsprachigen Raum passend zum osteuropäischen Winterspeiseplan gemeinhin unter der Bezeichnung „Kohl-Prinzip“ existiert) beim morgendlichen Anziehen berücksichtigen, ausgiebige Spaziergänge an der frischen Luft vermeiden und wenn nötig auch mal in Gebäuden sich ein bisschen wärmer anziehen und schon lässt sich die Kälte ganz gut ertragen. Mitleid ist also nicht nötig!

Mit warmen Grüßen aus dem kalten Osten

Eurer Lukas

Sonntag, 15. Januar 2012

Zurück aus der Winterpause

Liebe Blogleserinnen und Blogleser!

Zum fest der Liebe und der Familie konnte ich es nicht lassen, mich in den Flieger von Ost nach West zu setzen und über die Weihnachtsferien zurück ins schöne, wunderbar sauber und ordentliche Deutschland zu fliegen. Ich bin halt ein großer Traditionsmensch und konnte einfach nicht auf ein gutes, traditionelles, mit Essensorgien und Familientreffen gespicktes, deutsches Weihnachtsfest verzichten.

Fast drei Wochen habe ich in Deutschland verbracht, in denen ich viele Freude wiedergesehen habe (obwohl auch leider viele über die ganze Welt verteilt sich über Weihnachten nicht nach Deutschland zurück verirrt hatten) und so einige heimische Annehmlichkeiten wie Spülmaschine, Auto und natürlich alle Lieblingsspeisen genießen konnte.

Doch nun, back to business! Ich bin wieder in den Ostblock zurückgekehrt und so soll auch "Mein Ostblog" wieder mit frischen Zeilen gefüllt werden. Einige neue Berichte sind schon in Arbeit und werden bald hier veröffentlicht.

Und zum Schluss wie immer: das Wetter. Das Thema wird kaum von Wolken überdeckt. Es bleibt aktuell. Bis zum Ende des Monats steigt das Interesse weiter auf Werte bis zu 30 Nachfragen. Die meisten, teils heftigen Nachfragen wehen aus westlicher Richtung. Zum Monatsbeginn überwiegt viel Interesse, das dann im Verlauf wieder absinkt. Nur örtlich gibt es immer wieder heftige Nachfragen. Die Tageshöchstwerte liegen bei 3, in der Nacht bei 0. Das östliche Interesse ist schwach bis mäßig.

Also was ich eigentlich sagen möchte, ist dass sich das Thema Wetter bei Nachfragen aus Deutschland überdurchschnittlich hohem Interesse erfreute und sich immer noch erfreut. Während meines Besuches in der Heimat, wurde ich immer wieder etwas mitleidig nach dem Wetter gefragt, als würde ich von einer Antarktis-Expedition zurückkehren. Aber um ehrlich zu sein, auch ich bin ein bisschen verwundert über die derzeitige Wetterlage, die sich am besten mit dem Wort "unspektakulär" beschreiben lässt. Zum Glück kann ich noch nicht mit klimatischen Horrorgeschichten aufwarten. Wir dümpeln hier bei (den tropisch anmutenden?) 0° C herum. Schnee gibt es auch nicht. Mal schauen was der Februar bringen wird, dessen Bezeichnung aus dem Ukrainischen übersetzt so viel bedeutet wie "der Heftige" oder "der Scharfe". Ich melde mich, sobald es berichtenswert wird.

Sonntag, 18. Dezember 2011

Begegnungen


Das Eintauchen in ein komplett anderes Lebensumfeld ist mit der Begegnung vieler neuen Menschen verbunden, was zugleich Risiken als auch Chancen birgt. Risiken, weil man gerade als Fremder in einer anderen Kultur nicht weiß, wem man begegnen wird und vor allem, wie einem die Menschen in diesem Land begegnen werden. Chancen, weil man die Möglichkeit bekommt, von neuen Menschen kennengelernt zu werden, die in einem vielleicht etwas anderes erkennen als das bis dahin schon Bekannte - wodurch man auch sich selbst noch einmal auf andere Art erleben und kennenlernen kann.

Der österreichischen Dramatiker und Erzähler Arthur Schnitzler schreibt „Man kann sich wohl den Weg wählen,
aber nicht die Menschen, denen man begegnet.“ In diesem Sinne, habe ich wohl das Glück den richtigen Weg gewählt zu haben, da ich bis jetzt während meines Freiwilligendienstes so vielen interessanten und tollen Menschen begegnet bin.

Dieser Blogbericht ist deshalb den Menschen gewidmet, denen ich hier bisher begegnet bin. Einige sind zwar bereits in meinen Berichten aufgetaucht aber verdienen noch einige weitere Zeilen und natürlich auch noch eine visuelle Darstellung ihrer Person:


Meine Gastmutter Julia
Julia ist im wahrsten Sinne zu meiner Gastmutter geworden. Ich werde von ihr weiterhin fleißig bekocht und umsorgt. Sie steht mir immer zur Seite, wenn ich Hilfe brauche. Da sie Englischlehrerin bei mir an der Schule ist, kann ich mich vor allem mit ihr auch mal auf Englisch austauschen und so Sachen loswerden, die ich auf Russisch nicht so einfach ausdrücken könnte. Ich arbeite hauptsächlich in ihren Englischunterrichten mit bzw. leite Kleingruppen, sodass ich auch die Möglichkeit habe mich mit ihr über die Schüler und den Unterricht auszutauschen und Unterstützung von ihr zu bekommen, wenn es nötig ist.
Praktischer Weise gibt sie mir auch Russischunterricht und ist sehr engagiert mein Russisch zu verbessern.
Neben der Schule ist Julia vor allem mit Tanzen beschäftigt. Vier bis fünf Mal in der Woche geht sie nach der Schule Irish Dancing, Stepp und verschiedene Volkstanzstile tanzen. Einmal war ich mit ihr beim Tanzen und habe sogar mitgemacht. Allerdings hat das Ganze meine Koordinationsfähigkeit weit überschritten. Wie immer sind Sachen, die einfach aussehen in Wirklichkeit viel schwieriger. Und das, was dort getanzt wurde, sah noch nicht einmal einfach aus. Seit einiger Zeit bietet das Sportlehrer-Paar von unserer Schule, das professionell Standard tanzt, drei mal in der Woche Standarttanzunterricht an für alle, die interessiert sind, wo Julia meistens auch noch hingeht. Julia ist also ein richtiger Tanz- Junkie.
Für mich am wichtigsten ist aber natürlich, dass Julia und ich einfach super miteinander auskommen und ich bin sehr dankbar dafür, dass ich sie habe.


Mein Gastbruder Kirill
Kirill ist frischgebackene 17 Jahre alt, geht in die 11. Klasse und ist damit in seinem Abschlussjahr auf der Schule hier in der Ukraine. Die Begeisterung fürs Tanzen liegt wohl im Blut, denn auch Kirill tanzt drei mal pro Woche HipHop. Die Affinität zu Fremdsprachen hat sich allerdings irgendwie rausgemendelt. Kirill spricht nur sehr wenig Englisch, aber zum Glück bin ich mittlerweile im Russischen fit genug, dass wir uns gut unterhalten können. Neben dem Tanzen hat Kirill noch zwei Mal in der Woche Klavierunterricht und wir beide haben zusammen angefangen Gitarre- und Gesangsunterricht zu nehmen. Wenn er zu Hause ist, sitzt er meistens am PC und spielt irgendwelche Computerspiele oder treibt sich auf der russische Version von Facebook „V-Kontakte“ rum. Zu seinem Vater, Julias Ex-Mann, hat Kirill nur sehr wenig Kontakt. Was Kirill nach der Schule machen möchte, weiß er, wie mir scheint, noch nicht so genau. Da die Schüler hier in der Ukraine schon nach der 11. Klasse mit der Schule fertig sind, müssen sie sich relativ früh (meiner Meinung nach zu früh) entscheiden, was sie werden wollen. Bei Kirill wird es aber wahrscheinlich so in die Richtung Design, Kunst oder Architektur gehen.




Meine Gastoma Ljuda
Ljuba, die Mutter von Julia, wohnt ganz in der Nähe von uns und ist so auch öfter mal bei uns. Sie ist noch relativ jung für eine Oma (ich denke so Ende 50) und ruft ungefähr gefühlte 100 Mal am Tag Julia an, um ihr irgendetwas zu sagen, zu erzählen oder etwas zu fragen. Ansonsten ist sie aber ein herzensguter Mensch und genau wie Julia eine hervorragende Köchin, die uns oft irgendwelche Leckereien vorbeibringt.








Die Lehrer und Schüler in meinem Projekt
Mittlerweile fühle ich mich richtig heimisch in meinem Projekt. Alle Lehrer sind sehr freundlich zu mir und mit vielen ist es schon richtig kollegial geworden. Seit mehreren Wochen gebe ich nun auch noch zwei Mal in der Woche einen Deutschkurs für mehrere Lehrer, die mich darum gebeten haben, weil sie gerne Deutsch lernen wollen.
Zu den Schülern habe ich auch ein super Verhältnis. Die meistens sind sehr offen mir gegenüber, kommen auf mich zu und grüßen mich immer. Vor allem die Schüler, die ich auch unterrichte, sind mir inzwischen richtig ans Herz gewachsen.


Mein Verein
Mit der leisen Hoffnung, in der Ukraine die Möglichkeit zu haben, weiter Badminton zu spielen (da ich in Deutschland schon seit mehreren Jahren Badminton im Verein gespielt habe), habe ich meinen Badmintonschläger mit in mein Gepäck gezwängt, auch wenn ich nicht wirklich damit rechnete, in der Ukraine einen Verein zu finden. Letztendlich stellte sich aber heraus, dass Badminton hier ein richtiger Breitensport ist. So habe ich in den ersten Wochen während meiner Zeit hier gleich mehrere Vereine ausprobieren können und habe schließlich den PERFEKTEN Verein gefunden! Die Trainingshalle lässt sich in ca. 10 Minuten zu Fuß von der Schule aus erreichen, sodass ich oft länger in der Schule bleibe, da es sich nicht lohnt, den Heimweg von über einer Stunde anzutreten. Die Spieler im Verein sind alles richtige Supertalente und viele spielen schon seit sie einen Schläger halten können. Oft wird hier noch wie zu Sowjetzeiten sehr auf Drill trainiert, wobei die Trainer aber alle  super freundlich sind. Jeden Tag außer Sonntags findet gleich zu mehreren Zeiten Training statt und ich habe hier so eine Liebe zu diesem Sport bekommen, dass ich 4 bis 6 mal die Woche trainiere, teilweise sogar schon morgens um 8.00 Uhr bevor ich Unterricht habe. Mein Alltag dreht sich also im hauptsächlich um Schule und Badminton.
Mit den meisten Spielern aus meinem Verein habe ich mich schon richtig angefreundet und komme gut mit ihnen aus, auch wenn viele jünger sind, weil die meisten älteren Spieler schlichtweg zu gut spielen. Alle sind ziemlich ehrgeizig und ein paar Spieler haben sogar bei der Junioren-Europameisterschaft im Badminton im November diesen Jahres teilgenommen, die in Portugal stattfand. 

Die Halle befindet sich neben dem alten Fußballstadion
von FC Dnipround schon ein Banner weist auf Russisch darauf
hin, dass man hier "Badminton" spielen kann

Außenansicht der Halle



Innenansicht der Halle

Der Besuch der deutschen Austauschschüler
Schon im letzten Bericht habe ich erwähnt, dass Anfang November eine Delegation von deutschen Austauschschülern für knapp zwei Wochen zu uns an die Schule gekommen ist. Die Schüler und zwei Lehrer waren von der Waldorfschule aus Engstingen (Baden-Württemberg), die die deutsche Partnerschule von der Dnipropetrovsker Waldorfschule ist. Wie bereits schon geschrieben, findet dieser Austausch zwischen den beiden Schulen schon seit mehr als 10 Jahren statt. Jedes Jahr fahren die 9.-Klässler der Dnipropetrovsker Waldorfschule am Ende des Schuljahrs für knappe zwei Wochen nach Deutschland und im November kommen dann die deutschen Schüler in die Ukraine.
In der Zeit als die Deutschen hier waren, war einiges los und ich war ganz schön beschäftigt. Ständig stand irgendetwas auf dem Programm und ich habe auch noch jeden Morgen Englisch mit einigen der deutschen Schüler im Hauptunterricht (die ersten beiden Schulstunden) gemacht, neben noch weiteren extra Unterrichtsstunden mit den Deutschen. Am Wochenende, nach der Anreise der Deutschen, sind wir alle zusammen mit den ukrainischen Gastgeberschülern ins Fußballstadion gegangen. Es kam zur Begegnung zwischen FC Dnipro und Arsenal Cherkassy. Das Ergebnis des Spiels: 1:0 für FC Dnipro, für den wir natürlich mitgejubelt hatten. Mein Ergebnis des Spiels: Naja, wenn man aus Dortmund kommt ist man ja etwas fußballverwöhnt (sowohl was die Stimmung im Stadion als auch die Qualität des Fußballs angeht), deshalb war es jetzt nicht der Riesenknaller, aber immerhin schon interessant, einmal die Stimmung in einem ausländischen Fußballstation mitzubekommen.
Der Besuch der deutschen Austauschschüler war eine ganz besondere Begegnung
und zwar nicht nur für mich, sondern in vielerlei Hinsicht auch für die ukrainischen und deutschen Schüler. Für mich waren die knapp zwei Wochen des Besuchs insofern sehr interessant, weil ich die Möglichkeit hatte, zu beobachten wie junge Schüler aus zwei ganz verschiedenen Welten aufeinander treffen und miteinander umgehen. Außerdem konnte ich mich mal so richtig als Lehrer erproben, da ich nun mit Hilfe meiner eigenen Muttersprache unterrichten konnte. Ich durfte mit einem bescheidenden Lächeln auf den Lippen und gesteigertem Selbstvertrauen im Herzen von den Schülern Sätze wie „Du musst unbedingt Lehrer werden!“ oder „Willst du nicht zu uns an die Schule kommen und uns weiter unterrichten?“ entgegennehmen.


 Simon (deut.), Vlad (ukr.), Kirill, Paula (deut.) und Adrean (ukr.) (v. l. n. r.):
 Freitag vor dem Fußballspiel haben alle bei uns übernachtet
und am nächsten Morgen wurde erst einmal UNO gespielt

Christian und Guido (beide Lehrer von der Waldorfschule in Engstingen)
waren zusammen mit Nikolai (mit Julia zusammen Klassenbetreuer der 10. Klasse,
also der Gastgeberklasse) und seiner Frau bei uns zum Essen eingeladen

Samuel (deut.), Vova (ukr.), Olja (ukr.) und ich:
Im Stadion, ausgestattet mit Fanschals

Luca, Simon, ich, Vlad und Paula vor dem Stadion 


Natürlich bin ich bis jetzt noch vielen anderen Menschen begegnet und auch die Spieler aus meinem Verein, die Lehrer und die Schüler wurden von mir nur im Kollektiv erwähnt. Allerdings würde es den Rahmen sprengen, jede Begegnung detailliert zu beschreiben. Und mit „Rahmen sprengen“ meine ich, es wäre mir schlichtweg auch zu viel, weil es so viel zu schreiben gäbe. Wer also die Menschen in meinem Umfeld noch genauer kennenlernen möchte, der muss mich wohl einfach einmal besuchen kommen!

Grüße in alle Himmelsrichtungen!

Euer Genosse Lukas

Donnerstag, 1. Dezember 2011

Von Gucci-Deutsch, Paarvernichtung und der Definition einer Kreis(verkehr)stadt

Ein Besuch in Kiew ist immer allein deshalb schon lohnenswert, weil man auf aufregend unberechenbare Weise nie voraussagen kann, was man erleben wird. Man muss einfach auf das nächste Erlebnis, das nächste Abenteuer warten.
So fahre ich auch vollkommen unorganisiert und ohne Plan (die Ukrainisierung hat schon ganze Arbeit geleistet und mich entdeutschisiert) am letzten Oktoberwochenende nach Kiew, da ich von meiner betreuenden Organisation in der Ukraine ALTERNATIVE-V zum "Volunteer's Day" eingeladen wurde, eine Veranstaltung mit sowohl den ausländischen als auch den inländischen Freiwilligen von ALTERNATIVE-V.

In der letzten Oktober-Woche habe ich passender Weise auch Herbstferien und so fahre ich schon am Mittwoch Abend mit dem Nachtzug nach Kiew. Am Donnerstag Morgen komme ich dann in aller Herrgottsfrühe um 6:00 Uhr in Kiew an und gönne mir im Bahnhofs-MCDonald's erstmal ein "Хэппи Мил" (Chäppi Mil = Happy Meal) zum Frühstück. Nach dieser kleinen Stärkung stürze ich mich dann ins Gewusel der Metrostation, um mich zum Hostel aufzumachen, in dem ich auch schon das erste Mal in Kiew übernachtet habe (beim ersten Bericht über Kiew habe ich übrigens ganz vergessen zu erwähnen, dass das Hostel den traumhaften Namen „Dream Hostel“ hat – nomen est omen, fragt ihr euch? Ja, ich denke für ukrainische Verhältnisse auf jeden Fall). Es folgte eine kleine Odyssee durch Kiews Untergrundnetz, weil ich blöder Weise vergessen habe, wie die Metrostation heißt, wo sich das Hostel befindet. Nach mehren Fehlversuchen habe ich es aber schließlich doch geschafft und bin an der richtigen Metrostation ausgestiegen.
Ich mache mich auf die Suche nach der unscheinbaren Stahltür, durch die ich das letzte Mal unerwarteter Weise zum Dream Hostel gekommen bin. Zum Glück ist sie immer noch da (in der Ukraine weiß man da nie – letztens war einfach mal die Bude verschwunden, an der wir uns immer unser Trinkwasser holen. Nach einem Tag ist sie allerdings wieder aufgetaucht und stand am üblichen Platz als wäre nichts gewesen) und auch der Türcode des mechanischen Zahlenschlosses hat sich nicht geändert, sodass ich mir Zutritt verschaffen kann. Eine Mischung aus ukrainischer Abgeklärtheit, Faulheit und Draufgängertum lassen mich sogar den sargähnlichen Aufzug benutzen, den ich beim letzten Mal entschieden gemieden habe.

Nachdem ich mich im Dream Hostel ein bisschen ausgeruht und frisch gemacht habe, geht es dann auf zum Büro von ALTERNATIVE-V. Obwohl der Volunteers Day erst einen Tag später (am Freitag) ist, hat man mich gebeten schon Donnerstag ins Büro zu kommen, um ein paar Dinge abzuklären. Nach ein paar kleinen organisatorischen Angelegenheiten bezüglich meines Freiwilligendienstes, wird mir schließlich eröffnet, dass man sich gedacht habe, ich könne doch die Moderation des Volunteers Days übernehmen, immerhin zusammen mit einer Mitarbeiterin von ALTERNATIVE-V. In der Ukraine entwickelt man eine gewisse Seelengelassenheit und die  Gewissheit, dass alles schon irgendwie hinhauen wird, und so kann mich diese Neuigkeit nicht wirklich beunruhigen. Also kein Stress und ich lasse das Ganze mal gelassen auf mich zukommen.

Später treffe ich mich dann mit Carla (eine der beiden Freiwilligen, mit denen ich zusammen in die Ukraine geflogen bin und die beide in Projekten in Kiew arbeiten). Wir gehen zusammen etwas im Пузата Хата essen, was so viel wie kugelbauchige Hütte heißt und die größte Restaurantkette in der Ukraine ist. An fast jeder Straßenecke im Land gibt es ein Пузата Хата und man kann für wenig Geld sehr gut typisch ukrainisch essen gehen. Danach machen wir uns auf den Weg zu Luisa (die andere Freiwillige). Sie gibt gerade einen Englischkurs in ihrem Projekt, von dem wir sie abholen und gemeinsam machen wir uns auf den Weg ins Zentrum von Kiew. Dort treffen wir uns mit Felix und André. Felix ist ebenfalls deutscher Freiwilliger, hat allerdings schon ein Jahr hier in der Ukraine verbracht und verlängert nun seinen Aufenthalt um ein weiters Jahr. Andre ist ein Freund von Felix und ukrainischer Student. Alle zusammen erkunden wir schließlich die Kiewer Kneipen (was für eine schöne Alliteration, oder?).
So unter Freiwilligen nutzen wir natürlich die Möglichkeit uns über die interessanten bis merkwürdigen Erlebnisse in den ersten zwei Monaten hier in der Ukraine auszutauschen. Carla hat zum Beispiel ein unangenehmes Problem mit Kakerlaken. Als abgehärteter Ukraine-Freiwilliger kann Felix Carla sofort weiterhelfen. Es folgt eine Anleitung wie man den Schädlingen beikommt, die nicht nur Carla ihr Gesicht verziehen ließ. Lasst nur so viel gesagt sein: eine giftige Chemikalie, Beinamputationen und zum Schluss ein Knackgeräusch spielen dabei eine Rolle. Carla hat sofort Skrupel, dass sie von der sich besonders für Tiere einsetzende Organisation PETA mit Farbbeuteln beschmissen wird, wenn sie die Vernichtung ihrer unliebsamen Mitbewohner auf diese brutale, allerdings einzige wirksame Weise angehen würde. Drei Kreuze, ein Klopfer auf meine Fensterbank (gilt Presssparn auch als Holz?) und was man noch so macht um sich vor Bösem zu bewahren, dass mir die Viecher fern bleiben.

Am nächsten Tag steht dann der Volunteers Day an. Der findet nicht, wie ich dachte, im eher kleinen Büro von ALTERNATIVE-V statt, sondern in einem doch recht großen extra gemieteten Veranstaltungsraum. Ich fühle mich in meinem Pulli und Jeans etwas underdressed neben den sich für das Event aufgestylten Mitarbeitern von ALTERNATIVE-V. Allerdings hatte ich auch nicht mit einer für ukrainische Verhältnisse sehr förmlichen und durchstrukturierten Veranstaltung gerechnet. So ca. 10 Minuten bevor es losgeht, gehe ich dann mit meiner Moderationspartnerin den Ablauf des Abends und das, was ich sagen soll, durch. Es folgt schließlich das eigentliche Event, bei dem über verschiedenen Möglichkeiten sich als Freiwilliger zu engagieren, referiert wird, Vorträge zu Umweltbewusstsein und Freiwilligenarbeit gehalten werden und mehrere Auszeichnungen an Mitarbeiter und ehemalige Freiwillige ausgehändigt werden. Danach gibt es noch Schnittchen, Tee und Gebäck, woran ich mich erst einmal reichlich bediene, weil ich den ganzen Tag noch nichts gegessen habe.

Nach der Veranstaltung lädt uns ALTERNATIVE-V noch spontan zum Bowlingspielen ein. Felix und Andre sind auch dabei. Etwas partyhungrig ziehen Carla, Luisa, Felix, Andre und ich, zusammen mit noch ein paar jungen ehemaligen ukrainischen Freiwilligen von ALTERNATIVE-V los, um uns eine Kneipe zu suchen. Wir landen schließlich in dem absoluten Kneipengeheimtipp von Kiew. Genauso unscheinbar wie auch das Dream Hostel, muss man zur Kneipe in einen dunklen Hinterhof und dann eine Kellertreppe runter gehen. Der doch sehr zwielichtige Zugangsweg zur Kneipe steht in schrillem Kontrast zu der modern eingerichteten Kneipe selber. Neben guter Musik und der coolen Einrichtung, sind es vor allem die Preise, die die Kneipe zu einem echten Geheimtipp werden lassen. Ein halber Liter Bier kostet hier umgerechnet 1 €!

Der Samstag verläuft eher unspektakulär. Erst einmal wird natürlich in Ruhe ausgeschlafen, auch wenn das etwas schwierig ist, denn in meinem Schlafraum im Dream Hostel befindet sich jemand, der dringend mal einen HNO konsultieren sollte, weil er so laut schnarcht als würde jemand direkt neben deinen Ohren ein paar trockene Klötze Holz zersägen. Nach ein paar interessanten Gesprächen mit den immer sehr interessanten Gästen vom Dream Hostel, gehe ich mit Varvara, eine ehemalige Freiwillige von ALTERNATIVE-V, Teilnehmerin unserer gestrigen Abendgesellschaft und ebenfalls Gast im Dream Hostel ein bisschen durch Kiew spazieren und wir treffen uns dann noch mit Carla und Luisa, die Varvara schon länger kennen, da sie mit ihr auf einem Seminar für Freiwillige hier in der Ukraine waren.

Am Samstag Abend mache ich mich dann wieder auf zum Bahnhof. Dort treffe ich mich mit einer Gruppe von Schülern und zwei Lehrern von der Waldorfschule in Enstingen (Baden-Württemberg), die für 10 Tage einen Schüleraustausch an meiner Schule in Dnipropetrovsk machen und den gleichen Zug nehmen wie ich. Dieser Austausch zwischen den beiden Schulen findet schon seit mehr als 10 Jahren statt. Jedes Jahr fahren die 9.-Klässler der Dnipropetrovsker Waldorfschule am Ende des Schuljahrs für knappe zwei Wochen nach Deutschland und im November kommen dann die deutschen Schüler in die Ukraine.
Sie haben etwas für mich mitgebracht! Da das Verschicken von Paketen und Post generell in der Ukraine so eine Sache ist (Carlas Paket mit Wintersachen ist zum Beispiel schon seit 3 Monaten verschollen und Luisa musste erst einmal aus heiterem Himmel 100 € bezahlen, weil auf ihrem Paket Wertsachen angegeben waren, die eine bestimmte Summe überschritten haben), hat im Vorfeld noch eine ausgetüftelte Übergabeaktion stattgefunden. Die deutsche Delegation ist mit dem Zug von Stuttgart über Berlin in die Ukraine gereist. Meine Mutter, zufällig am gleichen Tag unterwegs in einen Kurzurlaub nach Berlin, hat bei einem Zwischenstopp des Zuges eine Tasche mit meinen Wintersachen an einen der sehr freundlichen Lehrer in den Zug gereicht. So konnte ich am Samstag Abend meine wegen der zunehmenden Kälte schon heiß ersehnten Wintersachen in Empfang nehmen und in aller Ruhe den Nachtzug zurück nach Dnipropetrovsk nehmen.


Aber da war doch noch was, oder? Ach ja, die Überschrift! Warum also Gucci-Deutsch, Paarvernichtung und Kreis(verkehrs)stadt? Habe ich etwa in Kiew sinnlos überteuertes Highsociety-Deutsch benutzt, oder habe ich den Entkuppler für mehrere Liebespaare gespielt (so zusagen als eine Art Evil Twin von Cupido) oder die sehenswürdigen Kreisverkehre Kiews erkundet? Keineswegs! Diese Wörter sind unverhofft in Kiew geboren und sind so sinnfrei wie sagenhaft. Aus der Abi-Zeit ist man ja noch darauf getrimmt in alles etwas reininterpretieren zu können. Deshalb könnte ich jetzt zu Unrecht behaupten, dass diese Wörter sinnbildlich für diese Tage in Kiew stehen. Eigentlich sind sie aber nur das Ergebnis eines sehr lustigen Wochenendes in Kiew. Manchmal tut es nämlich einfach gut volle Wortgewalt zu haben und mit anderen Deutschen ein bisschen rumzualbern. So stelle ich euch jetzt Definition und Etymologie der Wörter wie immer mit viel Rumgeschweife und einem fröhlichen "Wusstet ihr schon..." vor:

Wusstet ihr schon, was da bei rumkommt, wenn ein Ukrainer versucht "gutes Deutsch" zu sagen? Die Antwort lautet "Gucci-Deutsch" und sie kam von André, als wir am ersten Abend alle zusammen etwas trinken waren. Das lustige Ergebnis mag dem Sprachmix aus Russisch, Englisch, Deutsch und Ukrainisch geschuldet sein, den wir an diesem Abend zur Kommunikation benutzten. Das Attribut "Gucci" wurde von da an als eine Art neuer Superlativ von "gut" fleißig weiterbenutzt.

Wusstet ihr schon, was das englische Wort "annihilation" bedeutet? Nein? Nicht schlimm, wir wussten es auch nicht als Carla und ich am Donnerstag Abend zum Ende von Luisas Englisch-Club dazu stießen und das Wort die Lösung beim Hangmännchen war, das kurz vor Schluss gespielt wurde. Sofort wurde das Wort im Smartphone-Dictionary nachgeschaut und neben der nicht wirklich weiterhelfenden Übersetzung "Annihilation", spuckte das Dictionary das seltsame Wort "Paarvernichtung" aus. Allerdings konnten wir auch damit nicht wirklich etwas anfangen. Was soll denn auch bitteschön eine Paarvernichtung sein? Doch wenn man kreativ genug ist, dann finden sich einige lustige Momente, in denen man diesen „Wort-Exoten“ verwenden kann. Probiert es aus, wenn ihr wollt!

Wusstet ihr eigentlich schon, wodurch sich eine Kreisstadt definiert? Wer jetzt eine mit Beamtendeutsch vollgepfropfte Definition parat hat, mag von der simplen und auf bizarre Weise nicht ganz unlogischen Definition von Luisa überrascht sein. Um den stolzen Titel "Kreisstadt" verliehen zu bekommen, muss man nämlich einfach mindestens 5 Kreisverkehre in seiner Stadt haben. Klingt komisch, ist aber so, würde jetzt Peter Lustig von Löwenzahn sagen. Auch wenn es leider nicht so ist, würde es doch die ganze Angelegenheit stark vereinfachen.

So, das war es jetzt aber. Bald mehr darüber wie die Zeit hier mit den deutschen Austauschschülern war, über so einige andere Begegnungen und wie es bei mir eigentlich mit dem Verständigen läuft.

Viele Grüße aus der Kreisverkehrstadt Dnipropetrovsk

Euer Lukas




Varvara, Luisa, Carla und ich

Montag, 7. November 2011

Zeitungsartikel

Liebe Freunde,

am 5. November ist im Lokalteil der Westfälischen Rundschau ein Artikel von mir erschienen, in dem ich über meine Eindrücke während meines Freiwilligendienstes berichte.

Hier der Artikel für alle die ihn noch nicht in der Zeitung gelesen haben.